Essen. Die Mehrheit der Nutzer will im Internet sachlich diskutieren, sagen Medienpsychologen. Eine Minderheit liebt aber Krawall. Auch die Medien werden immer heftiger attackiert.

Natürlich soll der „Blödmann“ Andreas Kümmert „stempeln gehen“, weil er „keinen Arsch in der Hose hat“ und nun nicht beim Eurovision Song Contest vorsingt. Sebastian Edathy, „dieses Schwein gehört weggesperrt“, und Marcel Reif, das „arrogante Stück“, soll für immer „das Maul halten“. In Internetforen, dem Stammtisch, der keine Sperrstunde kennt, wird zugehauen. Auch in diesen Tagen. Noch Unwürdigeres landet im Staubsauger der Netz-Moderatoren, die sich bemühen, solche Debattenplätze vom gröbsten verbalen Unrat zu säubern.

Fördert das Netz die Aggression oder macht es sie nur öffentlich? Lässt man sich eher gehen, wenn man in einen virtuellen Raum hin­einmault? Reicht die kritische Zuspitzung nicht mehr, muss das Objekt der Attacke am Boden liegen? Und woher kommt die immer lauter artikulierte Wut auf die Medien? Schlimmer ist es im Netz nicht geworden, beteuern Experten. Man darf aber auch sagen: Es ist schon schlimm genug.

Für Stephan Winter, Medienpsychologe an der Uni Duisburg-Essen, hat „die breite Mehrheit keinen Schaum vor dem Mund, sie ist bei Facebook oder Twitter unterwegs und diskutiert sachlich“. Die Gruppe der Krawallstifter ist nach seiner Einschätzung „eher klein“. Vorsichtig räumt er ein, dass das Netz „ein Kanal ist, in dem Dinge sich verstärken können“. Bis hin zu Lynchjustizaufrufen, möchte man hinzufügen. Entgegen früherer Annahmen glaubt Winter nicht mehr, dass die „Leute sich austoben, weil sie anonym bleiben können“. Entscheidender seien soziale Normen: „Die Hemmschwelle sinkt, wenn man sieht, dass auf einer Seite oder in einem Forum schon aggressiv kommentiert wird. Da finden sich dann Gleichgesinnte, und die Dinge schaukeln sich schnell hoch.“

„Trolle“ sind wahre Luntenleger

Antreiber sind dabei zuweilen wahre Luntenleger, die „Trolle“. Streitsüchtige, wie ein fränkischer Frührentner, den die „FAZ“ unlängst besuchte. Er ballert täglich bis zu 200 Kommentare ins Netz und lässt sich mit dem Satz zitieren: „Provozieren, das ist wie ein Orgasmus.“ Hunderte schalten sich täglich in die Diskussionen bei „Spiegel Online“, „Süddeutsche.de“ oder „WAZ.de“ ein, geben Meinungen ab, liefern Zusatzinformationen, korrigieren mal einen Autor. Neben jenen, die an einer ernsten Auseinandersetzung Interesse haben, finden sich auch Selbstdarsteller auf der Suche nach Anerkennung, die sie im Lob anderer Teilnehmer finden können. Und einige bölken einfach herum.

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Das Ventil, um Druck abzulassen, ist so weit geöffnet wie noch nie in der Geschichte der Kommunikation: Wer nach Wahrnehmung schreit, dem wird sie heute inflationär gewährt. Kommentarfunktionen auf Internetseiten abzuschalten, hält Winter aber für falsch: „Das kann man den Leuten nicht mehr wegnehmen, sonst diskutieren sie woanders.“

5000 bis 6000 Kommentare

20 Ehrenamtliche machen das bei „ioff.de“, dem „Inoffiziellen Fernseh- und Medienforum“ mit seiner überaus regen Fan-Gemeinde. Laut Ingo Sauer, der es betreibt, zählt „ioff“ täglich 5000 bis 6000 Kommentare, zu Höchstzeiten vor fünf Jahren waren es gar bis zu 20 .000. „Wir müssen schon eingreifen, vor allem bei Themen wie Pegida und Ukraine wird es teilweise sehr persönlich, die Leute gehen sich an die Kehle.“ Das Beleidigen falle leichter, weil man gern ignoriere, dass auf der anderen Seite ein Mensch sitze. „Persönlich würde man das einem nicht ins Gesicht sagen.“ Allerdings ist Sauer mit dem allgemeinen Ni­veau im Forum zufrieden. Man habe die Gemeinde „in jahrelanger Arbeit ganz gut erzogen“.

Dass sich die Wut immer stärker auch gegen die Medien richtet, fällt nicht erst auf, seit der Begriff von der „Lügenpresse“ aus dem braunen Abfluss des Nazi-Vokabulars in die Pegida-Demos gespült wurde. Der Tübinger Medienprofessor Bernhard Pörksen sieht im Netz eine Gegenöffentlichkeit verankert, die er schon als „fünfte Gewalt“ einstuft. Sie sammle echte und vermeintliche Fehlleistungen der verachteten Medien und summiere sie zum generellen Misstrau­ensvotum, schrieb er im „Spiegel“.

Ein ungesunder Kreislauf

Kommentarkohorten in Foren können zweifellos den Eindruck erwecken, sie verträten die Öffentlichkeit und erzeugten ein repräsentatives Bild. So werden aus verfälschten Wahrnehmungen private Wirklichkeiten zusammengebastelt. Ein ungesunder Kreislauf, denn so kann sich jeder in noch so abstrusen Theorien bestätigt sehen. Das lässt sich kaum steuern.

Gleichwohl zwingt die neue Macht des Publikums den Journalismus zu mehr Offenheit, zu mehr Dialogbereitschaft. Und so ist sie ein Gewinn für die Demokratie. Allen Wutschreibern zum Trotz.