Essen. Wiedervereinigung und Europa zeichnen ihn aus, aber der ungeklärte Parteispendenskandal lastet schwer auf seiner Vita. Wie viel Ehre verdient Altkanzler Helmut Kohl? Diese Frage wollte Anne Will am späten Mittwochabend diskutieren. Was dann passierte, gönnt man keinem lebendigen Menschen.

„Armer Helmut Kohl!“ – dieser Ausruf von Kohl-Biograf Heribert Schwan beschreibt bestens, was vielen Zuschauern der ARD-Talkshow „Anne Will“ am späten Mittwochabend empfunden haben dürften – ob sie Anhänger des Altkanzlers sind oder nicht. Doch daran war Schwan keineswegs unschuldig.

Schließlich stritt er einen Gutteil der 75-minütigen Sendung mit Ex-Finanzminister Theo Waigel darüber, wer den Helmut Kohl besser kennt. „Sie waren nicht der einzige, der Kohl besucht hat“, giftete Waigel Schwan an. „Ich habe 360 Stunden Gespräche mit Kohl und seiner Familie aufgezeichnet“, schoss Schwan zurück.

Hat Helmut Kohl seinen Auftritt bei der CDU/CSU-Fraktion genossen?

Das Gespräch über Kohl, der in diesen Tagen  das 30-jährige Jubiläum seiner Kanzlerschaft begeht, wurde weitgehend in der Vergangenheitsform geführt, ungeachtet der Tatsache, dass Kohl durchaus noch lebt. Erst kurz zuvor hatte er sich bei einem Besuch der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der Öffentlichkeit gezeigt.

Keiner der Diskutanten – neben Schwan und Waigel hatte Anne Will „Freitag“-Verleger Jakob Augstein, Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth und den PR-Berater Dirk Metz eingeladen – war bei diesem Ereignis anwesend. Das hielt allerdings niemanden davon ab, langwierig darüber zu philosophieren, ob Kohl den Auftritt genossen und ob der Besuch seine Würde beschädigt habe.

So gut kennen Anne Wills Gäste Helmut Kohl offenbar nicht

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Teilweise nahm das groteske Züge an, etwa als klar wurde, dass die Gäste nicht einmal zu beantworten wussten, wie es um die Sprechfähigkeit des 82-Jährigen bestellt ist: „Kann Kohl noch sprechen?“ – „Hat er vor der CDU gesprochen?“ – „Hat man ihn verstanden?“ Rita Süßmuth beendete das unwürdige Treiben mit einer Gegenfrage: „Worüber streiten wir hier eigentlich?“

Also auf zum nächsten Komplex: Hat Kohl der CDU die Abkanzelung in der Spendenaffäre verziehen? „Verziehen ja, aber nicht vergessen“, schlug Theo Waigel vor. „Er hat nichts verziehen“, widersprach Schwan. „Warum sollte Kohl der CDU verzeihen?“, fragte Augstein. Für ihn sei es die CDU, die Kohl verziehen habe. Die Regie blendete das Thema der Sendung ein: „Jubeltag für Helmut Kohl - Zu viel der Ehre?“ – wahrscheinlich fürchtete man dort zu Recht, der Zuschauer könnte den Faden verloren haben.

Bei Helmut Kohls Privatleben entdeckt Anne Will ihre investigative Ader

Ungefähre Kompromisslinie: Die CDU profitiert, Kohl ein bisschen. Ob es sich allerdings um eine „PR-Show“ (Augstein) der Partei handele oder ob sie diese Tage nutze, um „mit sich selbst ins Reine und in Frieden“ zu gelangen (Metz), blieb ungeklärt.

Zeit, sich endlich den wirklich wichtigen Fragen zuzuwenden: „Was geht ab im Hause Kohl?“, fragte Moderatorin Anne Will. Der Einspielfilm zeigte verschlossene Rollos und Kameras am Haus im Ludwigshafener Stadtteil Oggersheim. Dirk Metz, eingeladen wegen seiner langjährigen Freundschaft zu Kohls neuer Ehefrau Maike Kohl-Richter,wollte sich nicht dazu äußern, ob sie wie von Schwan behauptet kontrolliere, wer Kohl besuche. „Das geht mich nichts an.“ Recht hat er, und Anne Will und Millionen Fernsehzuschauer genauso wenig. Doch die die Morderatorin legte nach: „Wir versuchen hier, etwas über ein historische Figur herauszufinden“, sagt sie. Nähe zu Voyeurismus könne sie da nicht erkennen.

Soll eine Briefmarke Altkanzler Helmut Kohl ehren?

Schwan ergriff seine Chance: „Nicht einmal seine Söhne dürfen ihn besuchen“, behaupteteer und kündigte im gleichen Atemzug sein neues Kohl-Buch an. Das werde neue exklusive Informationen zu Kohl bieten. Allerdings werde es kein Enthüllungsbuch. Man darf gespannt bleiben.

Dem wahren Thema, der Frage, wie viel Ehre Kohl zustehe, näherte sich Anne Will über die Sonderbriefmarke Kohls, die am 11. Oktober ausgegeben wird. Waigel findet die Idee gut: Kohl habe uns den Euro und die Wiedervereinigung beschert, das sei schon eine Briefmarke wert; für Augstein wiegt der Skandal um die CDU-Parteispenden schwerer: „Dafür soll er noch zu Lebzeiten büßen.“ Die Briefmarke solle folglich erst posthum veröffentlicht werden.

Das Lebenswerk des Altkanzlers reduziert auf die Frage, ob er sich selbst auf einer Briefmarke betrachten soll. Hoffentlich hat Helmut Kohl am Mittwochabend schon geschlafen.