Essen.. 30 Jahre nach seiner ersten Vereidigung zum Bundeskanzler blicken wir inzwischen milde auf die Amtszeit Helmut Kohls. Was haben wir auf den Mann geschimpft - und ihm politisch Unrecht getan. Inzwischen haben wir sogar Mitleid mit dem einsamen Mann im Rollstuhl. Ein persönlicher Rückblick auf die Ära.

Vor 30 Jahren wurde Helmut Kohl zum ersten Mal zum Kanzler vereidigt – ein Jubliäum, was die Christdemokraten zum Anlass nehmen, ihn zu ehren. Unser persönlicher Blick auf seine Amtszeit ist allerdings zwiespältig.

Wie haben wir auf diesen Mann geschimpft!

Als Helmut Kohl sich 1982 per Misstrauensvotum auf den Kanzlersessel im Bundestag und damit an die Macht wuchtete, verkörperte er für uns damals gerade über 20-Jährige so ziemlich all das, was wir an der Politik verabscheuten: Provinzialität, Mittelmäßigkeit, Bräsigkeit. Kohl war das politische Feindbild schlechthin, auch wenn er immerhin Franz-Josef Strauß, unserem Feindbild Nummer 2, die Stirn bot. Wenn der Oggersheimer über die „Famillje“ räsonierte oder gerade mal wieder irgendetwas „ganz und gar unerträglich“ fand, lachten wir uns schlapp. Ausgerechnet Kohl, die „Birne“, als Kanzler? Das kann, ja, das wird nicht lange gehen!

Wie haben wir diesen Mann unterschätzt!

Kohl aber sollte Kanzler bleiben, länger als jeder andere bisher in der Geschichte der Bundesrepublik. Länger sogar als der alte Adenauer, den wir schon damals nur noch aus den Geschichtsbüchern kannten. Und die ganzen Jahre über haben wir uns an Kohl abgearbeitet, in steter Gewissheit, dass die jeweils nächste Wahl sein politisches Aus besiegeln würde. Einmal, als Kohl auf Wahlkampftour in unsere Gegend kam, haben wir sogar gegen ihn demonstriert, Plakate gepinselt und Schmähgesänge gegrölt. Ich schätze, er hat uns nicht einmal gehört. Kohls Karawane zog einfach weiter und ließ uns mit unseren verknickten Plakaten im niederrheinischen Regen zurück wie begossene Pudel.

Irgendwann haben wir uns dann abgefunden mit dem Kanzler Kohl. Er war halt da und ging irgendwie nicht mehr weg. All die Vogels, Raus, Lafontaines und Scharpings, die es mit ihm aufnehmen wollten, prallten ab an dem Pfälzer Hünen wie Papierkügelchen an einem Elefanten. Und wir? Wir suchten uns andere Feindbilder. Als Kohl dann 1998 von einem politischen Hallodri namens Gerhard Schröder aus dem Kanzleramt vertrieben wurde, interessierte es uns schon fast nicht mehr. Helmut Kohl – war das was?

Wie haben wir diesem Mann Unrecht getan!

Haben wir das wirklich? Jedenfalls ist der Blick auf Kohl 30 Jahre nach seinem Einzug ins Kanzleramt milder. Das mag daran liegen, dass drei Jahrzehnte vieles verklären und dass so mancher „Skandal“ von damals in der Rückschau dann doch eher harmlos erscheint. Das mag auch an den Bildern des Helmut Kohl von heute liegen; Bilder eines schwerkranken Greises, im Rollstuhl sitzend, kaum fähig zu reden. Die Ehefrau suchte den Freitod, die Söhne sagten sich von ihm los. Es sind Bilder, die Mitleid erregen. Aber ist es das allein?

Nein, es ist an der Zeit, auch politisch Abbitte zu leisten bei Helmut Kohl, jedenfalls in einigen Punkten. Dass er – wie sein SPD-Vorgänger Helmut Schmidt – an der so genannten Nachrüstung festhielt? Es war wohl die richtige Strategie. Dass er unbeirrt auf ein vereintes Europa setzte, das uns offene Grenzen bescherte und viel länderübergreifende Freizügigkeit brachte? Eine immense Leistung, auch wenn er bei der Gemeinschaftswährung sich abzeichnende Probleme wohl allzu gern beiseite schob. Dass Kohl die deutsche Einheit nach dem Mauerfall, der nicht sein Verdienst war, beherzt anpackte, als andere mutlos lavierten? Ein Glücksfall für Deutschland.

Helmut Kohl war als aktiver Politiker, so viel ist sicher, einer der unbeirrt seinen Weg gegangen ist, nicht selten rücksichtslos gegenüber den eigenen Weggefährten. Die Menschen haben ihn immer wieder gewählt, weil sie sich bei ihm gut aufgehoben fühlten. So hat Kohl diesem Land über eineinhalb Jahrzehnte seinen Stempel aufgedrückt und das verlangt Respekt. An Helmut Kohl haben wir uns gerieben, über ihn haben wir geschimpft, uns über ihn in Rage geredet, unsere Meinung und unseren Blick geschärft. Unter seiner Kanzlerschaft haben wir unser politisches Denken entwickelt. Somit hat er auch uns geprägt. Ob uns das gefällt oder nicht.