Dortmund. Christopher von Deylen alias Schiller wagt sich in die Welt der Klassik. Im Interview erzählt er von seinem eher angespannten Verhältnis zur klassischen Musik und verrät, wie er die Zusammenarbeit Anna Netrebko empfunden hat — und warum er bei einem Song von Depeche Mode ans Aufhören denkt.

Christopher von Deylen geht mit seinem neuen Album "Opus" neue Wege und wagt sich auf das Terrain der Klassik. Dabei profitiert das neue Schiller-Album auch von der namhaften Verstärkung durch Hélène Grimaud am Piano und keiner Geringeren als Anna Netrebko.

Im Interview spricht Christopher von Deylen über die Zusammenarbeit mit den beiden Künstlerinnen, sein schwieriges Verhältnis zu klassischer Musik und über den Umgang mit bereits bestehenden Werken anderer Künstler.

Nach dem erfolgreichen Album "Sonne" nun zur Abwechslung mal Klassik. Inwieweit war das Arbeiten von Distanz, Ehrfurcht oder gar Respekt geprägt?

Christopher von Deylen: Ich bin erstaunt, dass mir diese Frage häufiger begegnet. Das heißt ja offenbar, dass Dinge wie Ehrfurcht immer noch sehr mit Klassik assoziiert werden. Bei mir übrigens auch. Man würde bei einer Rock-Platte nicht auf die Idee zu kommen, nach Ehrfurcht gegenüber der Musik zu fragen. Ich bin am Anfang natürlich sehr vorsichtig an die Arbeit gegangen, denn diese Werke strahlen in ihrer Zeitlosigkeit und ihrer Kraft etwas Unendliches aus. Da krempelt man nicht einfach die Ärmel hoch und sagt: "Dir zeig ich's schon." Ich bin entsprechend behutsam vorgegangen. Mir ging es darum, die in den Melodien ohnehin schon vorhandene Kraft herauszuarbeiten und zu verstärken.

Ehrfurcht und Respekt bezogen sich auch nicht unbedingt darauf, dass es sich um Klassik handelt, sondern um große, bereits bestehende Werke. Das könnte auch das Gesamtwerk der Beatles sein. Trägt ein Künstler eine gewisse Verantwortung beim Umgang mit diesen Werken oder herrscht da völlige Freiheit?

von Deylen: Eine Mischung aus beidem. Es ist mir aber sehr leicht gefallen, mir die Freiheit zu nehmen, und durch Weglassen von gewissen – in meinen Augen unnötigen – Teilen die Stärken der einzelnen Stücke noch weiter herauszuarbeiten.

Zum Beispiel bei Erik Saties Gymnopédie. Das ist ein Stück, das sehr leicht, fast wie ein Popsong beginnt. Nach ungefähr 16 Takten geht der Komponist Satie aber in eine völlig andere Richtung, was von ihm vermutlich als musikalischer Bruch gedacht war. Er beginnt mit einer verzaubernden Melodie und dann kommt so ein "Ätsch". Das ist aber dann der Teil, den ich für emotional unbedeutend halte, darum habe ich ihn weggelassen. Es würde mir allerdings nicht in den Sinn kommen, zu behaupten, dass die dritte Note von links eigentlich falsch ist und man das Stück umkomponieren müsste. Wenn man so empfindet, muss man sich lieber ein anderes Lied suchen.

Lag die Versuchung nahe, die Werke einfach nachzuspielen, oder war von Beginn an klar, dass es eher ein inspiriertes Arbeiten wird?

von Deylen: Das hat sich ergeben. Einfach nur nachzuspielen wäre sicherlich zu einfach und im Ergebnis nicht befriedigend gewesen. Das Spannende war, die Verzahnung von zeitlosen Kompositionen mit meinen Sounds und meiner Art des Arrangierens.

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Ich konnte mich viel freier mit meiner Klangmalerei und der eigentlichen Klangforschung auseinandersetzen, da es die eigentliche Komposition ja schon gab. Natürlich gibt es auf Opus aber auch Stücke wie zum Beispiel “Desert Empire”,, die eher inspiriert von klassischer Musik und ihrer Dynamik sind, aber keine konkrete Referenz haben.

Wie kam es denn zu Opus? War es ein lang gehegter Wunsch, sich mit Klassik zu befassen oder eher eine Beschäftigungstherapie nach dem letzten Album „Sonne“ und der Tour?

von Deylen: Ich bin ja gar kein Klassik-Fan und hätte es gar nicht für möglich gehalten, so ein Album zu machen. Mein Hauptantrieb ist es, meine künstlerische Freiheit immer wieder neu zu erfahren und zu erhalten. Ich fühle mich in meiner Schiller-Welt so frei, dass ich tun und lassen kann, was ich möchte. Opus ist vielleicht auf seine Weise ein kleiner Beitrag zur Urbarmachung dieser Freiheit.

Zusammenarbeit mit Anna Netrebko war großartig 

Haben Sie eine andere Herangehensweise der klassischen Komponisten festgestellt und vielleicht auch etwas gelernt? Klassische Werke sind oft sehr komplex und opulent, Elektro lebt davon, auch sehr minimalistisch zu sein.

von Deylen: Ich finde, dass Klassik und Elektronik sich sehr ähnlich sein können. Sicherlich kann man mit Elektronik sehr minimalistisch sein, aber das geht mit Klassik auch. In einem großen Orchester spielen ja nicht immer alle Instrumente gleichzeitig. Und dann ist es immer wieder erstaunlich, wie dynamisch klassische Musik sein kann, mit ganz leisen Passagen und plötzlich kommt das große Tutti. Das geht mit elektronischer Musik auch. Zwischen Minimalismus und opulentem Bombast ist da ja auch alles möglich. Das hat für mich schon immer den Reiz von elektronischer Musik ausgemacht. Im Gegensatz dazu ist Rockmusik – ohne das werten zu wollen – allein schon wegen der Grundlautstärke von Schlagzeug, Bass und Gitarre in ihrer Dynamik eingeschränkt.

Aber es stimmt: Wenn man ins klassische Konzert geht – was ich selber so gut wie nie mache –, dann muss man sich erst durch den ersten Satz und den zweiten und so weiter kämpfen. Das ist eigentlich so eine Art Schaukomponieren, und das Publikum ist eher staunender Betrachter, weil es oft kryptische Wendungen in den Melodien gibt und das Orchester sozusagen um sein Leben spielt. Das hat fast etwas Sportives. Aber dann kommt irgendwann diese achttaktige Melodie, wegen der ja eigentlich alle da sind. Das traut sich bloß keiner zuzugeben, weil Klassik ja diese Bedeutungsschwere haben muss. Am Ende geht es aber um die acht Takte, bei denen auch der Dauerabonnent feuchte Augen bekommt.

Christopher von Deylen ist ein nachdenklicher Künstler.
Christopher von Deylen ist ein nachdenklicher Künstler.

Ich glaube, man kann von Klassik genauso viel oder wenig lernen wie von einem Song der Beatles. Oder von Depeche Mode’s “Enjoy the silence”. Das ist mein absoluter Pop-Klassiker. Jedes Mal, wenn ich das Lied höre, denke ich, ich sollte lieber aufhören. Da kommt schon fast ein gewisser Unmut hoch, dass mir das nicht selber eingefallen ist (lacht). Dann beruhigt mich aber die Gewissheit, dass Depeche Mode das damals sicherlich nicht mit der Absicht komponiert haben, einen zeitlosen Klassiker zu schreiben.

Im Gegenteil. Der Song war als ganz ruhiges Stück mit Harmonium geplant. Erst Im Studio hatte Alan Wilder die Idee, da eine Dance-Nummer draus zu machen und hat das mehr oder weniger heimlich getan. Der Komponist Martin Gore war da anfangs gar nicht so begeistert von.

von Deylen: Das ist ja noch besser! Aber das meine ich ja: Beethoven hat sich doch auch nicht hingesetzt und gesagt: „So, jetzt schreibe ich einen Klassik-Hit.“ Er hat komponiert und auf einmal kam dabei durch eine Mischung aus Glück und Genialität etwas wie seine fünfte Sinfonie heraus. Da kann man in der Nachbetrachtung natürlich wunderbar analysieren, warum das ein besonderer Klassiker geworden ist. Aber beim Komponieren geht das nicht. Es haben ja schon Generationen von Künstlern versucht, durch die Analyse anderer Werke Hits zu komponieren. Man kann natürlich sagen: Besser gut kopiert als schlecht selbst gemacht. Ich versuche jedoch stets, einen eigenen Weg zu gehen und nicht zu viel nach links und rechts schauen.

Auf Opus befinden sich Werke, die schon oft von Pop-Künstlern adaptiert wurden. Griegs Peer Gynt zum Beispiel, oder Schwanensee und natürlich Bilder einer Ausstellung, das von Emerson Lake and Palmer komplett als Rock-Nummer gespielt wurde. Haben diese Vorgänger Einfluss auf Opus genommen?

von Deylen: Wir haben uns im Musikunterricht natürlich auch auf quälende Art und Weise die „Pictures at an exhibition“ von Emerson Lake and Palmer erarbeiten müssen. Aber das habe ich zum Glück alles wieder weitgehend vergessen. Die Erinnerung habe ich jetzt auch nicht aufgefrischt. Für den Fall, dass ich total ins Schwimmen geraten wäre, hatte ich mir die Option offen gehalten, mal bei den Vorgängern reinzuhören. Aber das war zum Glück nicht nötig.

Warum ging die Arbeit an Opus so schnell vonstatten?

von Deylen: Weil die verhältnismäßig lange Phase des Komponierens kürzer ausfiel, da ich mich teilweise auf bestehende Kompostionen stützen konnte. So konnte ich mich intensiver um die eigentliche Klanggestaltung kümmern.

Wie war die Zusammenarbeit mit Anna Netrebko?

von Deylen: Großartig! Einfach großartig. Es ist unvorstellbar, dass jemand, der seit vielen Jahren die Königin im Klassik-Schloss ist, sich auf eine neugierige Expedition jenseits ihrer Komfortzone begeben hat. Dazu muss jemand schon sehr interessiert sein. Anna Netrebko hat ja noch nie etwas außerhalb der Klassik gemacht. Die Klassik bietet ihr auch genügend Möglichkeiten zur Entfaltung – Langeweile wird sie da nicht haben.

Der Schritt in ein anderes Genre war für sie sicherlich ein größerer als für mich. Ich habe da natürlich gut reden, weil ich schon lange zwischen durch die verschiedensten Genres segele. Vor drei Jahren habe ich mit Jacki Liebezeit und seinem minimalistischen Schlagzeugspiel gearbeitet. Da ist mir genau so das Herz aufgegangen wie jetzt bei Anna Netrebko und Hélène Grimaud. Der Klassik sagt man ja nach, dass sie eine Festung sei, bei der keiner rein oder raus darf. Dass sich Anna Netrebko und Hélène Grimaud da sehr offen und neugierig auf die elektronische Schiller-Insel gewagt haben, war schon toll.

Sehen die Musiker selbst diese strikte Trennung vielleicht viel entspannter? Eine schöne Stimme ist eine schöne Stimme, egal, in welchem Genre. Das gleiche gilt für Melodien.

von Deylen: Ja, ich sehe das auf jeden Fall so. Aber man muss es eben doch erst einmal gemacht, um das dann auch wirklich so zu erleben. Das erfordert eine ähnliche Behutsamkeit wie das Herangehen an die Werke an sich.

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Die Art des Singens ist ja eine ganz andere als die von Rock- oder Pop-Sängern. Eröffnet die Zusammenarbeit mit einer Sängerin dieser Klasse auch neue Möglichkeiten für zukünftige Schiller-Projekte – etwa was das Komponieren von Gesangspassagen angeht?

von Deylen: Das kann ich noch gar nicht sagen. Es würde mich aber nicht überraschen.

Hat sich Anna Netrebko denn lange bitten lassen?

von Deylen: Nein, sie war sehr aufgeschlossen. Sie weiß genau, was sie will. Das finde ich sehr sympathisch und angenehm. Das liegt vielleicht daran, dass dem Klassik-Künstler vieles vorgegeben ist. Die Noten sind vorgegeben, die Dynamik ist auch relativ genau vorgegeben. Der Spielraum und eine etwaige Unsicherheit, die daraus entstehen könnte, ist sehr übersichtlich. Andererseits erlebt ein Klassik-Künstler nicht die Höhen und Tiefen des Kreativ-Prozesses.

Wenn ich ein Album veröffentlicht und eine Tour abgeschlossen habe, bin ich ja quasi arbeitslos. Ein Klassik-Künstler kann aus einem schier unerschöpflichen Pool an Werken schöpfen und muss sich nicht die Frage stellen lassen, ob die Songs vom letzten Album vielleicht besser waren. Andererseits gibt es da zum Beispiel die Maria Callas, wo man sich dann auch fragen lassen muss: „Warum singst du das, die Callas hat das doch schon vor 50 Jahren perfekt gesungen?“ Tauschen möchte ich damit auch nicht.