Sie haben die Musikszene schockiert und erschüttert - mit den Sex Pistols dringt der Punk in die Charts ein. Dabei lautet das Motto der Bewegung: Man muss kein instrument können, um Musik zu machen.

Lange war es ruhig um sie. Erst 2006, mehr als 30 Jahre nach ihrer Gründung, stehen die Sex Pistols plötzlich wieder in den Schlagzeilen. Die Bürgerschrecken von einst sollen eine späte Huldigung erfahren und in die Hall of Fame des Rock’n’Roll aufgenommen werden. In einem handgeschmierten Fax an das Komitee lehnt die Band eine Aufnahme jedoch ab und macht gleich mal deutlich, was sie von dieser Ehrung hält: „Neben den Sex Pistols ist Rock ‘n’ Roll und die Hall of Fame ein Pissfleck.“ Als Punk hat man halt einen Ruf zu verteidigen. Auch im gesetzten Alter.

Die Anfänge der Band gleichen beinahe denen einer Boygroup. Der umtriebige Künstler und Musik-Manager Malcolm McLaren hat die gerade dem Teenageralter entwachsenen Musiker Steve Jones, Paul Cook und Glen Matlock unter seine Fittiche genommen. Der clevere Londoner erfindet den Namen „Sex Pistols“ und sucht einen Sänger. Den findet er 1975 in John Lydon, einem 19-jährigen Bübchen mit stabilem Aggressionspotenzial.

Start wie bei einer Boygroup

McLaren kleidet, managt und inszeniert fortan die Sex Pistols, von denen er später sagt, sie seien eigentlich keine Band, sondern eine Idee gewesen. „Und sie waren das schillerndste, spektakulärste Scheitern, das ich je erlebt habe. Einfach großartig.“

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Von DerWesten

Für die Musik zeichnet das Quartett selbst verantwortlich, vornehmlich Matlock übernimmt das Songwriting. Heraus kommen gleichermaßen wuchtige wie einfache Stücke -- geradezu ein Tritt in den Hintern der Fans des aufgeblähten Progressive Rock. Ein Schlagzeug, ein Bass, eine Gitarre, wenige Akkorde. Fertig.

Die Botschaft lautet: Man muss kein Virtuose sein, um geile Mucke zu machen. Wenngleich Kritiker später oft behaupten, die Musik der Pistols sei mehr Hardrock denn Punk gewesen, wird die Band doch zur Ikone der Punkbewegung -- und beeinflusst spätere Strömungen maßgeblich.

Für die binnen kürzester Zeit immens wachsende Popularität der Sex Pistols sorgen zunächst aber mehr deren Auftreten und die extrem provozierenden Texte, die Lydon, der sich nun Johnny Rotten nennt, höchstpersönlich schreibt.

Erste Single vom Markt genommen

Die Plattenfirma EMI nimmt die Jungs unter Vertrag und produziert mit ihnen Ende 1976 die erste Single: „Anarchy in the U.K.“ Wenig später wird die Platte, die viele Radiostationen erst gar nicht spielen, aufgrund ihres Inhalts aber wieder vom Markt genommen. Ein Übriges dazu trägt ein Fernsehinterview bei, das Gitarrist Steve Jones nutzt, um die Zuschauer nach allen Regeln der Kunst zu beschimpfen. Zumindest eins erreicht er damit: Die Sex Pistols sind im Vereinigten Königreich in aller Munde.

Noch bevor der kommerzielle Erfolg einsetzt, verlässt Matlock im Februar 1977 die Band und wird durch Sid Vicious ersetzt, der zwar als völlig talentfreier Bassist gilt, aber den Punk verkörpert wie kaum ein anderer. Zum 25-jährigen Thronjubiläum von Elisabeth II. erscheint bei der Plattenfirma Virgin im Mai 1977 „God save the Queen“ und schlägt ein wie eine Bombe. Die Royalisten sind über Passagen wie „Gott schütze die Königin, das faschistische Regime...“ zwar not amused, doch die Scheibe avanciert zum Kassenschlager. Angeblich landet sie nur deshalb nicht auf Platz eins der Charts, weil konservative Macher der Musikindustrie die Verkaufszahlen manipulieren.

Punk. No One Is Innocent

Anarchy in the UK Sex Pistols. No. 1, 1976 (Courtesy Stolper Wilson Collection, London, Foto: Ray Stevenson/Rex Features)
Anarchy in the UK Sex Pistols. No. 1, 1976 (Courtesy Stolper Wilson Collection, London, Foto: Ray Stevenson/Rex Features)
Johnny Rozsa, Boy George, 1978 (© Johnny Rozsa)
Johnny Rozsa, Boy George, 1978 (© Johnny Rozsa)
Bill Woodrow, Car Door, Armchair and Incident, 1981 (Courtesy der Künstler und Waddington Galleries, London © Kunsthalle Wien, 2008, Foto: Stephan Wyckoff)
Bill Woodrow, Car Door, Armchair and Incident, 1981 (Courtesy der Künstler und Waddington Galleries, London © Kunsthalle Wien, 2008, Foto: Stephan Wyckoff)
Jörg Buttgereit, Mein Papi, 1981 (Courtesy der Künstler/the artist)
Jörg Buttgereit, Mein Papi, 1981 (Courtesy der Künstler/the artist)
Andrew Unruh, Stahlschlagzeug der Einstürzenden Neubauten, ca. 1980 (Courtesy rock’n popmuseum, Gronau © Kunsthalle Wien, 2008, Foto: Stephan Wyckoff)
Andrew Unruh, Stahlschlagzeug der Einstürzenden Neubauten, ca. 1980 (Courtesy rock’n popmuseum, Gronau © Kunsthalle Wien, 2008, Foto: Stephan Wyckoff)
endart, god ’n’ dog, 1984 (Courtesy Privatsammlung, © endart, VBK Wien, 2008 + endart, locus solus, 1984, Courtesy Privatsammlung, © endart, VBK Wien, 2008 © Kunsthalle Wien, 2008, Foto/photo: Stephan Wyckoff)
endart, god ’n’ dog, 1984 (Courtesy Privatsammlung, © endart, VBK Wien, 2008 + endart, locus solus, 1984, Courtesy Privatsammlung, © endart, VBK Wien, 2008 © Kunsthalle Wien, 2008, Foto/photo: Stephan Wyckoff)
Jamie Reid, God Save the Queen, 1976 (© Jamie Reid, Courtesy Vivienne Westwood Archive)
Jamie Reid, God Save the Queen, 1976 (© Jamie Reid, Courtesy Vivienne Westwood Archive)
Die Tödliche Doris, Das Leben des Sid Vicious, 1981 (Filmstill/filmstill, Courtesy Wolfgang Müller, © Die Tödliche Doris, VBK Wien, 2008)
Die Tödliche Doris, Das Leben des Sid Vicious, 1981 (Filmstill/filmstill, Courtesy Wolfgang Müller, © Die Tödliche Doris, VBK Wien, 2008)
Vivienne Westwood in “Sex”, 1975 (Foto: William English)
Vivienne Westwood in “Sex”, 1975 (Foto: William English)
David Wojnarowicz, Aus/From Arthur Rimbaud in New York, 1978-79/2004 (Courtesy The Estate of David Wojnarowicz, New York; Cabinet London; PPOW, New York, © The Estate of David Wojnarowicz)
David Wojnarowicz, Aus/From Arthur Rimbaud in New York, 1978-79/2004 (Courtesy The Estate of David Wojnarowicz, New York; Cabinet London; PPOW, New York, © The Estate of David Wojnarowicz)
Alan Vega, Alan Suicide. Alien, 1976/2001 (Courtesy the artist; Deitch Projects, New York, © Kunsthalle Wien, 2008, Foto/photo: Stephan Wyckoff)
Alan Vega, Alan Suicide. Alien, 1976/2001 (Courtesy the artist; Deitch Projects, New York, © Kunsthalle Wien, 2008, Foto/photo: Stephan Wyckoff)
Salomé, Fuck 1, 1977 (Courtesy der Künstler und Galerie Deschler, Berlin, © Salomé, VBK Wien, 2008, Foto: Jochen Littkemann)
Salomé, Fuck 1, 1977 (Courtesy der Künstler und Galerie Deschler, Berlin, © Salomé, VBK Wien, 2008, Foto: Jochen Littkemann)
Richard Kern, Fingered, 1986 (Courtesy Richard Kern)
Richard Kern, Fingered, 1986 (Courtesy Richard Kern)
Linder, Untitled, 1978 (Courtesy die Künstlerin und Stuart Shave Modern Art, London)
Linder, Untitled, 1978 (Courtesy die Künstlerin und Stuart Shave Modern Art, London)
Lynda Benglis, Artforum Advertisement, 1974 (© 2008 Lynda Benglis, VBK Wien 2008, Courtesy Cheim & Read, New York)
Lynda Benglis, Artforum Advertisement, 1974 (© 2008 Lynda Benglis, VBK Wien 2008, Courtesy Cheim & Read, New York)
Gudrun Gut, ca. 1977 (Foto: Anja Frejya, Courtesy Gudrun Gut)
Gudrun Gut, ca. 1977 (Foto: Anja Frejya, Courtesy Gudrun Gut)
Mark Morrisroe, Untitled (La Môme Piaf), 1982 (© Nachlass Mark Morrisroe, Sammlung Ringier, im Fotomuseum Winterthur)
Mark Morrisroe, Untitled (La Môme Piaf), 1982 (© Nachlass Mark Morrisroe, Sammlung Ringier, im Fotomuseum Winterthur)
Richard Hambleton, Shadow Man, New York City, East Village, 1982 (Foto: Hank O’Neal, Courtesy Hank O’Neal und/and Woodward Gallery, New York)
Richard Hambleton, Shadow Man, New York City, East Village, 1982 (Foto: Hank O’Neal, Courtesy Hank O’Neal und/and Woodward Gallery, New York)
Linder, SheShe, 1981 (Courtesy die Künstlerin/the artist und/and Stuart Shave/Modern Art, London, © Kunsthalle Wien, 2008, Foto/photo: Stephan Wyckoff)
Linder, SheShe, 1981 (Courtesy die Künstlerin/the artist und/and Stuart Shave/Modern Art, London, © Kunsthalle Wien, 2008, Foto/photo: Stephan Wyckoff)
Robert Mapplethorpe, Patti Smith, 1976, Patti Smith, 1978 (Courtesy Robert Mapplethorpe Foundation, New York, © Kunsthalle Wien, 2008, Foto/photo: Stephan Wyckoff)
Robert Mapplethorpe, Patti Smith, 1976, Patti Smith, 1978 (Courtesy Robert Mapplethorpe Foundation, New York, © Kunsthalle Wien, 2008, Foto/photo: Stephan Wyckoff)
Tony Oursler, The Loner, 1980 (Courtesy der Künstler/the artist und/and Lisson Gallery, London + Richard Hambleton, Shadow Man, 1984, Courtesy ZELLERMAYER Galerie, Berlin, © Kunsthalle Wien, 2008, Foto/photo: Stephan Wyckoff)
Tony Oursler, The Loner, 1980 (Courtesy der Künstler/the artist und/and Lisson Gallery, London + Richard Hambleton, Shadow Man, 1984, Courtesy ZELLERMAYER Galerie, Berlin, © Kunsthalle Wien, 2008, Foto/photo: Stephan Wyckoff)
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Manager McLaren trägt einmal mehr zum Erfolg bei: Er mietet am Geburtstag der Queen ein Boot, das die Sex Pistols für ein Konzert auf der Themse nutzen - in unmittelbarer Nähe der königlichen Feierlichkeiten. Die Wasserschutzpolizei stoppt das Schiff und lässt es räumen, es kommt zu Handgreiflichkeiten. Ein genialer PR-Gag.

Simpler Meilenstein

Im November 1977 erscheint das erste und einzige Studio-Album: „Never Mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols“. Alle zwölf Songs sind nach demselben Muster gestrickt: musikalisch simpel, druckvoll, wütend. Dennoch gilt die Scheibe heute als Meilenstein der Musikgeschichte. Die deutsche Ausgabe der Fachzeitschrift Rolling Stone hat sie gar zum sechstbesten Album aller Zeiten gewählt.

Nach ein paar Gigs in den USA im Januar 1978 verlässt Johnny Rotten die Sex Pistols, worauf die Band zerfällt. Im Oktober findet die Polizei den völlig zugedröhnten Sid Vicious in einem New Yorker Hotelzimmer; neben ihm liegt seine ebenfalls heroinabhängige Freundin Nancy Spungen -- erstochen. Der 21-Jährige wird verhaftet und vier Monate später gegen Kaution entlassen. Noch am Tag seiner Freilassung stirbt Sid Vicious an einer Überdosis Heroin.

Zur allgemeinen Überraschung findet die Urbesetzung der Sex Pistols 1996 wieder zusammen und geht auf Welttournee. Erstmals spielen die Punk-Ikonen auch auf deutschem Boden. Beim Festival im münsterländischen Ochtrup segelt zur Begrüßung eine Bierflasche knapp an Rottens Kopf vorbei, der daraufhin in gewohnter Manier seine Meinung über Deutschland („Piss-pot Country“) kundtut. In dem Konzert sehen nicht alle Kritiker ein Meisterstück, den Fans jedoch gefällt’s. Es wird Pogo getanzt und auf die Bühne gespuckt. Für kurze Zeit ist alles wieder so wie früher.

1977 - die Chronik des Jahres:

Terror in Deutschland. Gründonnerstag werden Generalbundesanwalt Siegfried Buback und zwei Begleiter in Karlsruhe von einem Motorrad aus erschossen (7. April). Am 28. April verurteilt das OLG Stuttgart die RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe wegen mehrfachen Mordes zu lebenslanger Haft.

Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt erschießen den Vorstandssprecher der Deutschen Bank Jürgen Ponto in seinem Haus in Oberursel bei Frankfurt (30. Juli). In Köln wird der Präsident des Bundesverbandes der Arbeitgeber Hanns-Martin Schleyer entführt, seine vier Begleiter werden getötet (5. September).

Um inhaftierte RAF-Mitglieder freizupressen, kidnappen vier Palästinenser die Lufthansa-Maschine „Landshut“ (13. Oktober). Der Irrflug endet in Mogadischu (Somalia). Dort stürmt die GSG 9 am 18. Oktober das Flugzeug und befreit die Geiseln. Baader, Ensslin und Raspe begehen in dieser Nacht Selbstmord.

Der entführte Schleyer wird erschossen im Kofferraum eines in Mühlhausen (Elsass) abgestellten Audi gefunden.

Die Charts des Jahres:

Bereits zwei Jahre bevor das Musical „Evita“ Premiere hat, gelingt Julie Covington mit „Don’t Cry For Me Argentina“ ein Millionenseller. In Deutschland rangiert der Song 35 Wochen lang in den Charts. </p><p>Auf Rang sieben der Jahrescharts steht das drei Jahre alte „Porque Te Vas“ von Jeanette Dimech. Es war 1974 unbeachtet geblieben. Als Carlos Saura den Titel jetzt in seinem Film „Züchte Raben…“ verwendet, schießt er in die Hitparaden.

1.Julie Covington: Don’t Cry For Me Argentina

2.Boney M.: Ma Baker

3.Baccara: Yes Sir, I Can Boogie

4.Smokie: Living Next Door To Alice

5.Frank Zander: Oh Susie

6.Oliver Onions: Orzowei

7.Jeanette: Porque Te Vas

8.Bonnie Tyler: Lost In France

9.ABBA: Knowing Me, Knowing You