Essen. . Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino erzählt in seinem neuen Roman „Bei Regen im Saal“ von einem Lebenskünstler, der Doktor der Philosophie ist, jedoch als Barkeeper und Nachtportier jobbt, und sich selbst eher als „Überwinder“ sieht. – Humorvoll und sprachlich großartig: ein typischer Genazino.

Sein größter Wunsch ist es, einmal einen einfältigen Tag zu durchleben. Wenn er den Meisen zuschaut, wie sie Brotkrumen aufpicken, meint er, „die Vögel warnen zu müssen, dass sie auf ihren falschen Frohsinn nicht hereinfallen sollten“. An Phantasie mangelt es ihm wahrlich nicht, dem kauzigen Ich-Erzähler. Er ist einer dieser herrlich skurrilen Lebenskünstler, wie wir sie von Wilhelm Genazino kennen. Vor gut einem Jahr ist der Wahlfrankfurter 70 geworden. Wird er immer besser, oder liest man ihn nur von Buch zu Buch lieber?

Im neuen Roman „Bei Regen im Saal“ auf jeden Fall zeigt er sich in Höchstform. Die Lektüre ist herzerfrischend. Zu skurril ist dieser Kerl, von dem erst auf Seite 135 zu erfahren ist, dass er Reinhard heißt. Freundin Sonja, die ein gütiger Mensch ist und als Bereichsleiterin im Finanzamt II auch noch gut verdient, nennt ihn kurz einen „Problemfall“. Hat er doch aus seinem überlangen Philosophiestudium und der Promotion nichts gemacht. Er jobbt leidenschaftslos als Barkeeper und Nachtportier. Sieht sich aber eher als „Überwinder“ von Beruf. Überwinder wovon? Von allem und jedem. Sein größtes Projekt dabei: „Ich wollte meine komplette Familie überwinden.“

Die besten Komödien sind eigentlich Tragödien

Die nämlich lässt ihn nicht los. Vor allem die Mutter nicht. Mit einer unglaublichen Leichtigkeit, die ihresgleichen sucht, erzählt Genazino vom misslungenen Abnabelungsprozess und den bleibenden Gewissensbissen, die ein Leben blockieren. Da liest der Erzähler beim vorbeifahrenden Schulbus dann schon mal „Schuldbus“ und grämt sich seiner Existenz. Die liebevollen Kleinigkeiten sind es, die große Literatur ausmachen. Die feinsinnigen Beobachtungen lassen den Roman außerdem zu einer Schule des Sehens werden.

Die Welt ist traurig genug. Im Buch ist von „Schlichtheit des Wirklichen“ die Rede. Also machen wir sie doch besser, indem wir sie einfach mit anderen Augen sehen, mit ein wenig mehr Phantasie. Weiß Wilhelm Genazino doch schon lange, dass die besten Komödien eigentlich die Tragödien sind.

Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal, Hanser, 158 S., 17,90 €