Berlin. Verharmlost Bernhard Schlinks Roman “Der Vorleser“ die Schuld der Deutschen am Holocaust? Der Autor des Weltbestsellers feiert nach einer Doppelkarriere als Schriftsteller und Jurist 70. Geburtstag.

Es gibt wohl nur wenige Bücher, die so beliebt und zugleich so umstritten sind wie Bernhard Schlinks Roman "Der Vorleser". Die gewagte Liebesgeschichte zwischen einer ehemaligen KZ-Aufseherin und einem 15-jährigen Schüler, mit Kate Winslet oscargekrönt verfilmt, ist in mehr als 50 Sprachen übersetzt und weltweit ein Millionenseller. "Kulturpornografie" und "Holocaust-Kitsch", befanden dagegen Kritiker. An diesem Sonntag (6. Juli) wird Bernhard Schlink 70 Jahre alt - und ist umtriebig wie eh und je.

Der Schriftsteller und emeritierte Rechtsprofessor lebt seit mehr als 20 Jahren zwischen Berlin und seinem Haus in Massachusetts an der US-Ostküste, hält weiter juristische Seminare, schreibt Gutachten und Aufsätze und legt im August einen neuen Roman vor - "Die Frau auf der Treppe". Gegenüber den Medien, die gelegentlich harsch mit ihm umgingen, ist Schlink zurückhaltend, Interviews sind selten. "Ich bin beim Schreiben glücklich, mag der Erfolg sein, wie er will", sagte er einmal.

Bis 2005 ist er Verfassungsrichter in Nordrhein-Westfalen

1944 in Bielefeld geboren und in einem evangelischen Theologenhaushalt in Heidelberg aufgewachsen, hatte Schlink seine erste Karriere als Jurist gemacht. Für den Pfarrberuf des Vaters reichte sein Glaube nicht, die Polit-Aktivisten während des Studiums in den "68ern" waren ihm zu radikal. "Ich wollte die Gesellschaft lieber durch Juristerei verbessern", sagte er der "Frankfurter Rundschau" im vergangenen Jahr.

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Also Promotion, Habilitation und schließlich Professuren in Bonn und Frankfurt am Main. Zwischendrin ein erster Aufenthalt in den USA, um Abstand zur gescheiterten Ehe zu finden und sich als Masseur und Goldschmied zu erproben. Doch langfristig bleibt es bei den Rechtswissenschaften.

Zuletzt übernimmt er von 1992 bis zu seiner Emeritierung 2009 den Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität in Berlin. Bis 2005 ist er zugleich Verfassungsrichter in Nordrhein-Westfalen. In jenem Jahr vertritt das langjährige SPD-Mitglied auch die Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder im Streit um die damalige Auflösung des Bundestags vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe.

Der große Durchbruch kommt mit dem "Vorleser"

Schon in Schlinks literarischem Debüt wird die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit zum zentralen Thema. In dem Kriminalroman "Selbs Justiz" (1987), gemeinsam mit dem Jura-Kollegen Walter Popp verfasst, geht es um einen Detektiv, der sich mit seiner eigenen Vergangenheit als Nazi-Staatsanwalt konfrontiert sieht. Schlink baut die Geschichte später als Solo-Autor mit den Titeln "Selbs Betrug" (1992) und "Selbs Mord" (2001) zur Trilogie aus.

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Der große Durchbruch kommt mit dem "Vorleser". Als das Buch 1995 in Deutschland erscheint, wird es zunächst verhalten aufgenommen. Erst als Entertainerin Oprah Winfrey "The Reader" nach dem US-Start 1999 zum Buch des Monats kürt, geht der Hype los: Wochenlang steht der deutsche Roman auf der Bestsellerliste der New York Times, mehr als eine Million Exemplare werden allein in Amerika verkauft, und auch in Großbritannien und Deutschland steigt das Interesse rasant - eine ungewöhnliche Erfolgsgeschichte.

Experten loben die klare, schnörkellose Sprache des Autors, seine souveräne Erzählweise, die raffinierte Konstruktion der Geschichte. Erst spät, anlässlich von Schlinks vielgelobtem Prosaband "Liebesfluchten", bricht 2002 eine scharfe inhaltliche Kontroverse auf.

Vorwurf der "sentimentalen Geschichtsfälschung"

Der Wortführer Jeremy Adler, ein britischer Germanistik-Professor und Holocaust-Nachfahre, wirft Schlink "sentimentale Geschichtsfälschung" vor. Er verharmlose die Schuld der Deutschen in der NS-Zeit und mache die Täterin zur Heldin. "Es wirft ein trauriges Schlaglicht auf unsere verkehrte Welt, dass diesen Schundroman ausgerechnet ein deutscher Richter ausgebrütet hat", befand Adler. Der Autor konterte, die Welt lasse sich nie einfach nur in Gut und Böse teilen: "Wir müssen damit leben, dass Menschen, die monströse Verbrechen begehen, nicht immer einfach Monster sind."

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Trotz der Debatte fanden auch Schlinks spätere Bücher beim Publikum immer große Resonanz, auch wenn die professionelle Kritik - wie etwa bei den Romanen "Die Heimkehr" (2006) und "Das Wochenende" (2008) - eher verhalten urteilte. 2010 folgte unter dem Titel "Sommerlügen" ein weiterer Erzählband, der ebenfalls auf gemischte Resonanz stieß. "Stocksteife Seniorenresidenzprosa", urteilte etwa die "Stuttgarter Zeitung". Zum 70. Geburtstag erscheinen die "Sommerlügen" und die früheren "Liebesfluchten" nochmals in einer Sonderausgabe.

Seinen literarischen Nachlass hat der Schriftsteller schon zu Lebzeiten dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach vermacht. Dort werden die Materialien, darunter das Originalmanuskript des "Vorlesers", für die Forschung aufbereitet. Über seinen zeitgeschichtlichen Einfluss ist sich Schlink klar: "Ich merke, dass ich zu dem Bild beigetragen habe, das man sich im Ausland von Deutschland macht." (dpa)