Essen. Familien(betriebs)-Geschichten, Kindheits- und Sozial-Dramen und die Erzählung einer Organtransplantation: Die Auswahl zum Leipziger Buchpreis spiegelt die Bandbreite deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Wir stellen die Autorinnen und Autoren und ihre Werke vor.

Fünf Romane sind nominiert für den Leipziger Buchpreis 2013, in der kommenden Woche wird während der Buchmesse das Geheimnis gelüftet. Die sieben Juroren haben zwar eine eigenwillige Auswahl getroffen, folgen aber einer gewissen Logik: Den ersten literarischen Gehversuchen von zwei sehr jungen Autorinnen stehen zwei ehrgeizige Seiteneinsteiger mit Familien(betriebs-)Geschichten aus Ost- und West-Deutschland gegenüber – und der fünfte im Bunde ist einer, an dem man in diesem Frühjahr einfach nicht vorbei kam.

Die jungen Wilden

Die Beiträge der Österreicherin Anna Weidenholzer, Jahrgang 1984, und der Deutschen Lisa Kränzler, 1983, weisen erst auf den zweiten Blick Ähnlichkeiten auf: Denn beide sind (auch) Studien eines kleinstbürgerlichen Milieus, das Frauen enge Grenzen setzt.

Kränzler erzählt im Roman „Nachhinein“ (Verbrecher Verlag, 269 S., 22 €) von der Freundschaft zwischen zwei Mädchen, die in derselben Straße wohnen: „Jasmin/Celine/Justine“ in einer verrauchten Mietwohnung, die Ich-Erzählerin „Lotta/Luisa/Luzia“ in einer Villa. Auf der einen Straßenseite gibt es Klavierunterricht für ein angehendes Wunderkind, auf der anderen Missachtung und Missbrauch – und Kränzler findet dafür drastische Worte, die vor blutigen Details nicht zurückschrecken. Ein Unfall reißt die Freundinnen endgültig auseinander: Während „Lotta/Luisa/Luzia“ mit einem Cellisten Frühlingsgefühle erlebt, wird es um „Jasmin/Celine/Justine“ nachtschwarz. Ein wütendes, brutales Buch über die nur scheinbar unbeschwerte Kindheit.

Auch interessant

144333034--198x148.jpg
Von Britta Heidemann

Anna Weidenholzer hingegen begleitet in „Der Winter tut den Fischen gut“ (Residenz-Verlag, 250 S., 21,90 €) in aller Stille die 47-jährige Maria bei einem Abstieg, den sie rückwärts schildert: in 54 Szenen, die ergründen, warum Maria am Ende ihre Tage auf einer Parkbank verbringt. Diese brave Frau, die 19 Jahre lang in einer Boutique arbeitete und dann von heute auf morgen entlassen wurde, die sich von ihrem Mann schikanieren ließ und seinen Tod doch betrauert – sie könnte in ihrer Wehr- und Hilflosigkeit beinahe eine Figur von Marlene Streeruwitz oder Elfriede Jelinek sein. Was, bei aller stilistischen Kunstfertigkeit des Buches, durchaus die Frage aufwirft, ob derartige Figuren eigentlich zeitgemäß, gegenwärtig sind – und warum sich eine junge Autorin ihnen widmen muss.

Die Ehrgeizigen

Beide sind Seiteneinsteiger, wenn auch nicht mehr ganz jung: Der Bremer Ralph Dohrmann, Jahrgang 1963, legt mit „Kronhardt“ das literarische Debüt vor. Der Journalist Birk Meinhardt, 1959 in Berlin geboren, hat zwar bereits zwei Romane veröffentlicht, aber ohne größeres Aufsehen. Beide erzählen nun, durchaus geschichtsträchtig, Familien(betriebs)-Geschichten – einmal hüben, einmal drüben.

Dohrmanns „Kronhardt“ (Ullstein, 928 S., 24,99 €) war im vergangenen Herbst noch ein Geheimtipp. Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass sein opulentes Werk – fast tausend Seiten, knapp 60 Jahre erzählte Zeit – über einen Jungen namens Willem, Erbe der Maschinenstickerei Kornhardt & Sohn, mehr ist als ein Bildungsroman. Willem wächst nach dem Krieg auf bei der überstrengen Mutter und dem Stiefvater, recht eigentlich ist sein ganzes Leben eine Flucht vor ihnen. Am Ende wird der Roman, der nicht nur die beinahe vergessene Kunst der Landschaftsbeschreibungen pflegt, sondern auch menschliche Regungen bis auf den Grund auslotet, zur surrealen Detektiv-Geschichte: So viele Bücher in einem!

Auch interessant

Alea_Torik_54662312.jpg
Von Britta Heidemann

Kinderreicher, dafür um einige verrückte Einfälle ärmer ist Birk Meinhardts „Brüder und Schwestern“ (Hanser, 704 S., 24,90 €), der offenbar Teil einer Trilogie sein soll und „Die Jahre 1973 - 1989“ umfasst. Willy Werchow ist Druckerei-Direktor in Thüringen. Seine Frau treibt er mit einer außerehelichen Affäre in den Selbstmord, seinen Kindern Britta, Erik und Matti verschweigt er ein Geheimnis. Die drei gehen Wege, die, leicht klischeehaft, die ganze Bandbreite möglicher DDR-Biografien aufzeigen. Britta rebelliert und wird eine große Nummer beim Zirkus. Erik, der sogar die eigene Schwester bei der Stasi verpetzte, macht Karriere. Matti wird Schriftsteller und publiziert bei einem West-Verlag. Seine Sprache wird beschrieben als „antiquiert und modern zugleich, ein seltsames Zwischending“ – gleiches gilt für Meinhardt, als Journalist immerhin zweifacher Träger des Kisch-Preises. Nun erzählte er noch die skurrilsten Szenen in gespreizter Sprache.

Der Lebendige

Der Schriftsteller David Wagner, 1971 geboren und im Rheinland aufgewachsen, litt jahrelang an einer seltenen Autoimmun-Hepatitis, die erst durch eine Lebertransplantation geheilt wurde. Sein Roman „Leben“ (Rowohlt, 288 S., 19,95 €) schildert einen ganz ähnlichen Fall, aber, so der erste Satz: „Alles war genau so und doch ganz anders.“

Der Erzähler spuckt Blut, und er weiß, „wird diese Blutung nicht schnell gestoppt, bin ich bald tot“. Dass er nicht tot sein will, hat vor allem zu tun mit „dem Kind“, einem Mädchen, für das er Sorge trägt. So ungeschminkt, ungeschönt geht es weiter. Wir hören von einer Krankheit, von deren Existenz wir nichts ahnten, von Medikamenten, die einen Menschen verändern können: „Bestimmt die Biochemie meines Körpers die Gefühle?“, fragt der Erzähler. Gerade der nüchterne Stil bringt uns diesen medizinischen Fall mit Wucht nahe. Mit einer Unterschrift entscheidet sich der Erzähler „für ein mögliches Weiterleben“. Wir warten mit ihm auf den Anruf, wir begleiten ihn in den Operationssaal. Am Ende, die Leber ist verpflanzt, ein neues Leben beginnt, führt Wagner seine Leser zu Gedanken, die man sich lieber nicht gemacht hätte: Darüber, dass da nun Zellen in ihm sind, die nicht seine sind. „Ich bin ein zusammengesetzter neuer Mensch“, schreibt er, „ergänzt und verbessert, eine Chimäre, ein Hybrid, ein Replikant beinahe“.

David Wagner zeigt, was Literatur leisten kann, wenn sie sich der Gegenwart, dem Leben in letzter Konsequenz stellt. Ein starkes Stück Literatur.