Essen. . In Cannes sorgte „Melancholia“ vor allem für Gesprächsstoff, weil Regisseur Lars von Trier mit seinem Hitler-Verständnis provoziert hatte. Nun kommt der Film in die deutschen Kinos und beweist, dass er mehr als Provokation zu bieten hat.

Am Ende sind alle tot, die ganze Menschheit ist dahingerafft, eine Erde gibt es nicht mehr. Man braucht also keinen Zweifel daran zu haben, ob unser Planet tatsächlich von dem größeren Asteroid „Melancholia“ verschlungen wird. Wenn der Regisseur Lars von Trier schon selbst den Weltuntergang zu Beginn seines neuen Films „Melancholia“ zu erkennen gibt, dann muss nicht mehr künstlich Spannung aufgebaut werden.

Nun redet der Däne, der früher das Dogma-Kino mit seinen einfachen Strukturen propagierte, ziemlich viel, wenn der Tag lang ist. In Cannes fiel er zuletzt dadurch auf, dass er in einer Pressekonferenz verstörend positive Äußerungen über Hitler abgab, um daraus den Umkehrschluss zu ziehen, dass es sich bei ihm denn wohl um einen Nazi handeln müsse. Doch so wenig man diesen zwischen Hohn, Spott und Verzweiflung angesiedelten Sprüchen des Melancholikers Glauben schenken muss, so wenig muss man als bare Münze nehmen, wie Lars von Trier über seinen Film spricht: „Ich möchte diesen Film abstoßen wie ein Körper ein falsch implantiertes Organ.“

Wenn Kirsten Dunst als Justine nackt im Mondlicht badet

Tatsächlich vollzieht sich die Apokalypse in „Melancholia“ in geradezu berauschender Schönheit. Das fängt schon bei der Ouvertüre an, die uns anbetungswürdige letzte Bilder von Mensch und Natur in Zeitlupe präsentiert, unterlegt mit Richard Wagners Eröffnungsmusik aus „Tristan und Isolde“. Und das setzt sich fort, etwa in jener nächtlichen Sequenz, wenn Kirsten Dunst als Justine nackt im Mondlicht badet und es so aussieht, als betrachte sie den aus der Bahn geratenen „Melancholia“ wie einen Liebhaber und sehne die Vereinigung förmlich herbei.

Justine leidet unter depressiven Schüben, will aber zu Beginn des Films mit ihrer Hochzeit geradezu zwanghaft Normalität demonstrieren. Ihre mitten im Leben stehende und beherzt zupackende Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg) hat ihr deshalb auch eine prunkvolle Feier im Schloss der Familie arrangiert. Doch gerade dieser Aufmarsch an Verwandten lässt bei der Braut allmählich die Fassade bröckeln: Sie nimmt ein Bad, statt die Hochzeitstorte anzuschneiden; sie fehlt an der Tafel, wenn Tischreden geschwungen werden; sie schläft schließlich auf dem zum Haus gehörenden Golfplatz kurzerhand mit ihrem Kollegen aus der Werbeagentur. Am Morgen verabschiedet sich der Bräutigam, die Ehe ist schon im Ansatz gescheitert.

Kiefer Sutherland kann das Ende weder abwenden noch abwarten

Der zweite Teil von „Melancholia“ beginnt zwar damit, dass Claire ihre mittlerweile völlig in Dämmerzustand verfallene Schwester zu sich aufs Schloss holt, doch dann erfährt die Beziehung der beiden eine dramatische Wendung. Der aus der Bahn geratene Planet, dessen Existenz anfangs nur zart angedeutet wird, hat sich mit seinem Kurs inzwischen zu einer ernsten Bedrohung entwickelt. Justine, die nichts zu verlieren hat außer ihrer Traurigkeit, lebt nun förmlich auf und ergreift die Initiative. Claire hingegen als verheiratete Frau und Mutter, sieht der scheinbar unausweichlichen Katastrophe wie gelähmt mit Entsetzen entgegen. Ihr Ehemann John (Kiefer Sutherland) hat längst Schlaftabletten gekauft, um dem Ende zuvorzukommen.

Lars von Triers Besetzungspolitik scheint vom gleichen Umkehrschluss geprägt, wie das schwesterliche Verhältnis. Alexander Skarsgård, in der TV-Serie „True Blood“ der beherrschende Vampir-Führer, schrumpft hier zum gehörnten Gatten. Kiefer Sutherland, als Jack Baur in mehreren „24“-Staffeln der Weltenretter, kann diesmal das Ende weder abwenden noch abwarten und schluckt alle Pillen zu früh. Ihm entgeht ein phänomenaler Moment des Kinos: Justine, Claire und ihr Sohn auf grüner Wiese wie beim Picknick, während im Hintergrund Melancholia immer gewaltiger wird. Die Melancholie verschlingt alle Hoffnung. In Lars von Triers nächstem Film soll es dem Vernehmen nach um eine Nymphomanin gehen.