Essen. Unvergessen ist Leos Carax’ Film „Die Liebenden vom Pont Neuf“ über eine langsam erblindende Malerin. Danach kam nicht mehr viel. Jetzt aber meldet sich der Kino-Poet mit dem verstörenden Film „Holy Motors“ zurück – Kino der Traumbilder, entschlüsseln unnötig.

Wenn das Kino uns angeblich unentwegt mit Träumen versorgt, dann sollte man diesen Zustand der Aufhebung von Realität auch einfach mal zum Gegenstand eines Filmes machen. Ein Film, der so anfängt wie „Holy Motors“ beispielsweise. Da schreckt ein Mann aus dem Schlaf hoch, ertastet benommen eine geheime Tapetentür – und findet sich mitten in einem Kinosaal wieder, durch den ein einsamer Wolf streift.

Der Schläfer, der gleich wieder in einen Traum vom Kino fällt, ist kein anderer als Leos Carax („Die Liebenden vom Pont Neuf“), der Regisseur dieses Films, der nicht verstanden zu werden braucht, um trotzdem von ihm fasziniert zu sein. Im Zentrum jedenfalls steht ein Mensch, den man von seiner Erscheinung her sofort als Geschäftsmann einstufen würde. Er nimmt Platz in einer Stretchlimousine und lässt sich von seiner Fahrerin (Edith Scob) den Terminplan für den Tag geben. Danach verliert der Film jedoch jede Bodenhaftung und wird zu einer Art Achterbahn des Daseins.

Realistische Rollenspiele

Die Termine für den „Monsieur Oscar“ genannten Reisenden nämlich bestehen sämtlich aus einer Art von extrem realistischen Rollenspielen. Der Schauspieler Denis Lavant verwandelt sich dabei mal in eine alte Bettlerin, mal in einen Selbstmordattentäter, mal in einen greisen Sterbenden, der nach Eintritt des Todes schon weiter hastet.

Und einmal, in einer ganz besonderen „tour de force“, wird er zu einem Monster namens „Merde“, der ein schönes Model (Eva Mendes) in die Kanalisation entführt. Wer da möglicherweise an den Glöckner von Notre-Dame denkt, der hat zumindest eine von vielen Möglichkeiten erkannt.

Vom Drama zum Musical

Später wird Oscar in einer raren Atempause eine Kollegin wiedertreffen, die sich gerade in der Rolle einer liebeskranken Stewardess befindet. Carax hat sie mit Kylie Minogue besetzt, weil er sich die Freiheit nimmt, in seinem Traum von einem Film auch mal ganz einfach vom Drama zum Musical zu wechseln. Mit verwehender Stimme singt der Popstar „Who Were We?“ (Wer waren wir?), was so etwas wie das Thema dieses Films sein könnte.Carax sieht den Menschen offenbar in einer immer virtueller werdenden Welt verschwinden, weshalb er mit Oscar einen kraftvollen Gegenentwurf geschaffen haben könnte – hier lebt einer in fünf, zehn, zwanzig verschiedenen Realitäten.

Autos reden miteinander

Und wer schließlich immer noch fragt, warum der Film denn wohl „Holy Motors“ heißt: Die Stretchlimousinen werden des Abends in einer riesigen Halle geparkt, über deren Eingang diese Worte prangen. Man darf sich bei Carax über nichts wundern, auch nicht darüber, dass sich die Autos vor dem Einschlafen darüber unterhalten, demnächst vielleicht verschrottet zu werden. Womit klar wird, dass die Langgestreckten hier das Kino symbolisieren, den Motor der Träume.

Oscar ist derweil zu Hause abgesetzt worden und winkt mit seiner seltsamen Familie ein letztes Mal dem Zuschauer zu. Was wir sehen könnte eine ironische Anspielung an „2001“ sein. Aber wir deuten schon wieder zu viel.