Essen. . Der Episodenfilm “Wild Tales – Jeder dreht mal durch“ des argentinischen Regisseurs Damian Szifron erzählt von der täglichen Ohnmacht und Wut.

Man kennt dieses Gefühl von Ohnmacht in Tateinheit mit steigender Wut nur zu gut. Wenn man etwa zum dritten Mal an der gleichen Stelle in der Stadt geblitzt wird, weil man sich gerade mal wieder sechs bis zehn Kilometer über den zulässigen 30 bewegt hat. Eigentlich möchte man rechts ranfahren, aussteigen und dem Bürokraten am Messgerät den Unterschied klarmachen zwischen planvollem Abkassieren und tatsächlicher Sorge um die Verkehrssicherheit.

Aber dann fährt man doch weiter und wartet sein Knöllchen ab. In dem ebenso finsteren wie komischen Episodenfilm „Wild Tales – Jeder dreht mal durch!“ des Argentiniers Damian Szifron fährt niemand weiter. Hier wird immer angehalten und werden die Stühle zurechtgerückt, hier lässt sich niemand mehr etwas gefallen.

Wutbürger in Südamerika

Eigentlich meinte man schon, den Begriff „Wutbürger“ für Deutschland gepachtet zu haben. Doch in Argentinien, wo Korruption, bürokratische Willkür, Ungerechtigkeit und Ungleichheit ein noch viel größeres Problem sind, ist gelegentliches Dampfablassen fast schon ein Therapieversuch. Szifron macht in seinem Film deshalb auch keine Gefangenen, hier wird in sechs konsequent erzählten Geschichten gekämpft bis zum Umfallen, was aus „Wild Tales“ schon jetzt den erfolgreichsten argentinischen Film aller Zeiten gemacht hat.

Wie immer bei Episodenfilmen, die inhaltlich nicht miteinander verbunden sind, unterscheiden sich die Beiträge gelegentlich in der Qualität ihrer Aussagekraft. In „Die Ratten“, wo die Bedienung in einem Imbiss in dem einzigen abendlichen Gast ausgerechnet jenen Kredithai wiedererkennt, der ihren Vater einst in den Selbstmord getrieben hat, kann man die Wut und den Griff zum Rattengift nur abstrakt nachvollziehen. Und auch der schwerreiche Magnat in „Die Rechnung“, der mit viel Geld und einem Sündenbock seinen Sohn vor der Anklage der Fahrerflucht mit Todesfolge retten will, kann emotional nicht so recht greifen.

Doch immer dann, wenn Szifrons Drehbucheinfälle um nachvollziehbare Alltagsdinge kreisen, funktioniert sein Film aufs Prächtigste. Die beiden Autofahrer in „Straße zur Hölle“ etwa kommen einem sehr bekannt vor, wie da der städtische Raser einen langsam

fahrenden Landproleten bedrängt und ihm beim Überholen den Stinkefinger zeigt. Aber dann hat das neue Auto dummerweise einen Reifenschaden, und beide Männer stehen sich plötzlich gegenüber, gegenseitig schaukelt man sich hoch. Ähnliches erwartet den Zuschauer auch in „Bis dass der Tod uns scheidet“ auf der Hochzeitsfeier von Romina, deren Bräutigam selbst an diesem Tag die Augen nicht von seiner alten Flamme lassen kann. Zuerst schlägt die gefrustete Braut zu, später toben sich die aufgestauten Antipathien auch in der Hochzeitsgesellschaft aus.

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Was Damian Szifron dem Zuschauer zumutet, sind Geschichten der totalen Eskalation, jede Situation wird bis zum bitteren Ende auserzählt, gemildert nur durch die natürliche Komik des Geschehens. Man denkt unwillkürlich an Michael Douglas, der in Joel Schumachers „Falling Down – Ein ganz normaler Tag“ mit einer Maschinenpistole als Schreckmittel gegen den täglichen Ärger anzugehen beschließt. Aber auch die Lust an der Subversion im Kino des Pedro Almodóvar, der denn auch gemeinsam mit Bruder Agustin zu den Koproduzenten des Films gehört.

Dass es in der gelungensten Episode dieses Reigens der Gewalt ausgerechnet um einen Sprengstoffexperten geht, verwundert nicht. Diesem Simon hat man bereits zum wiederholten Male sein Auto aus einer Parkverbotszone abgeschleppt, ohne dass die ausreichend kenntlich gemacht worden wäre. Als alles Reden an der Behörden-Willkür abprallt, besinnt sich der Geschädigte auf sein Handwerk. Wenn er schließlich zuschlägt, exakt und genau wie immer, verspürt man tatsächlich Lust, ihm dafür zu applaudieren.

Wertung: vier von fünf Sternen