Essen. . Nuri Bilge Ceylans Cannes-Gewinner “Winterschlaf“ portraitiert Menschen in der Türkei, die von einem anderen Leben träumen, aber trotzdem in ihrem alten Trott verharren. Melancholisch und irgendwie sympathisch.

Im Abspann von Nuri Bilge Ceylans Cannes-Gewinner „Winterschlaf“ wird Gewissheit, was sich eigentlich schon sehr schnell erahnen ließ: Der türkische Filmemacher hat sich von Kurzgeschichten Anton Tschechows zu diesem kaleidoskopischen Arrangement von Geschichten inspirieren lassen. Und wie der große russische Schriftsteller, der einst die Lähmung seiner Zeitgenossen wie kein anderer eingefangen hat, porträtiert auch Ceylan vor allem Menschen, die voller Verzweiflung von einem anderen Leben träumen, aber trotzdem in ihrem alten Trott verharren.

Die Figuren verlieren sich in Worten und Argumentationen

Vor Jahren war Aydin (Haluk Bilginer) ein erfolgreicher Theaterschauspieler in Istanbul. Doch nun lebt er wieder in Kappadokien im Haus seines Vaters, das er in ein kleines Hotel mit dem Namen „Othello“ verwandelt hat. Hier schreibt er seine gesellschaftskritischen, aber immer auch etwas oberflächlichen Kolumnen für eine kleine lokale Zeitung. Und wenn er nicht gerade in seinem dunklen Arbeitszimmer über dem Computer brütet, führt er Debatten mit seiner deutlich jüngeren Frau Nihal (Melisa Sözen) oder seiner seit kurzem geschiedenen Schwester Necla (Demet Akbağ).

Mal sind es Gespräche über grundsätzliche moralische Haltungen, mal erbitterte Kämpfe, in denen die Frauen versuchen, sich gegen Aydins herablassendes Verhalten und seine patriarchalischen Anwandlungen zur Wehr zu setzen. Aber immer schwebt in diesen Szenen noch etwas anderes mit. So leicht es Ceylans Figuren fällt, sich in Worten und Argumentationen zu verlieren, so unfähig sind sie, eben diesen Worten Taten folgen zu lassen. Im letzten Drittel dieses gut drei Stunden langen Stillstandspanoramas bricht Aydin endlich aus der Enge seines Hauses auf. Aber sein Weg führt ihn natürlich längst nicht dorthin, wo er eigentlich hin wollte.

Die Übergangsgesellschaft kann mit dem Lauf der Welt einfach nicht mithalten

Wie Tschechow blickt auch Nuri Bilge Ceylan mit einer Mischung aus Melancholie und Sympathie auf diese Übergangsgesellschaft, die nur untergehen kann. Sie alle haben gute Absichten und hehre Ideale. Aber mit dem Lauf der Welt können sie einfach nicht mithalten. So umweht sie zugleich etwas Lächerliches und Tragisches. Die Komik, die immer wieder aufblitzt, wenn Aydin mal wieder zu schwach ist, um Verantwortung zu übernehmen, kippt konsequent ins Entsetzliche. Ceylan muss dabei nicht mit einem einzigen Wort auf die aktuellen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Türkei hinweisen. Sie sind trotzdem immer präsent.

Wertung: vier von fünf Sternen