Berlin. Mitte der 50er Jahre warb die Gewerkschaft für die Einführung der fünftägigen Arbeitswoche mit dem Slogan "Samstags gehört Vati mir". Wenn es nach dem Willen von Pro Sieben geht, gehört mit den Serien "Gossip Girl" und "90210" der Samstagnachmittag den Mädchen.
Dann strahlt der Fernsehsender zwei US-Teenagerserien im Doppelpack aus: das in New York angesiedelte „Gossip Girl“ und das in Beverly Hills beheimatete „90210“.
Sie sind jung, reich und sexy. Und sie schlagen sich mit Problemen herum, von denen andere Teenager träumen. An der West- und Ostküste der USA spielen sich in den neuen TV-Serien dramatische Szenen ab: Wer erhält eine Einladung zur Party des beliebtesten Mädchens der Schule? Passen meine grauen Stiefeletten zur orangefarbenen Tasche? Muss ich unbedingt das Kleid aus Mamas neuer Modelinie zum Sonntagsbrunch im „Plaza“ tragen?
Wie Hänsel und Gretel
Aber die Jeunesse dorée der Upper East Side in Manhattan und aus den Villenvierteln in Beverly Hills wäre nichts ohne ihre verarmte – oder weniger mit einem Millionärssalär denn mit einem durchschnittlichen Bankkonto ausgestattete – bürgerliche Entsprechung, an der sie sich den Luxuskörper reiben kann: jeweils ein Geschwisterpaar aus einem mittelständischen Haushalt.
Wie Hänsel und Gretel ziehen diese einkommensschwächeren, aber aufrichtigen Geschöpfe in die jeweiligen Serien ein. In „90210“ führt sich der schlecht gelaunte Adoptivsohn Dixon bereits auf der gemeinsamen Autofahrt der Familie in Richtung des neuen Domizils mit einem deutlichen: „Das nervt!“ ein – unterlegt mit dem Song „Viva la Vida“ von Coldplay und dessen programmatischer erster Zeile „I used to rule the world“. Die Eltern versuchen zwar, ihn und seine ebenso wenig von dem Umzug nach Beverly Hills überzeugte Schwester Annie mit dem schönen Wetter und den vielen Palmen zu locken, aber die beiden trauern ihrem vertrauten Umfeld in Kansas hinterher.
Stubenreine Kleinstädte
Dan und Jenny aus der in New York spielenden Serie „Gossip Girl“ dagegen nehmen den Zug. Sie kommen nach einem Kurztrip zufällig parallel mit Serena van der Woodsen auf dem Bahnhof Grand Central Station in Manhattan an. Deren Ankunft wird sofort per E-Mail und SMS von dem Titel gebenden Gossip Girl, einer anonymen Klatschtante im Internet, nebst Beweisfoto der in Gedanken versunkenen Blondine an alle User verschickt. Serena war über ein Jahr in der Versenkung eines Internats verschwunden. Ganz New York, oder besser gesagt, das Großbürgertum rund um den Central Park, rätselt darüber, warum sie abtauchen musste und ob der Zickenkrieg mit ihrer Busenfreundin Blair Waldorf beginnt. Hänsel und Gretel No. 2, pardon, Dan und Jenny werden von ihrem verwuselten, temporär allein erziehenden Vater abgeholt, der sich als Ex-Rockmusiker noch immer nicht von seinem Leben der Boheme verabschiedet hat.
Erinnert sich jemand an die graue Jugendserienvorzeit? Lange nach der anarchischen „Pippi Langstrumpf“ von Astrid Lindgren und den kurze Hosen sowie wollene Strümpfe tragenden „Fünf Freunden“ aus Enid Blytons Büchern, die für Film und Fernsehen ab den 60er-Jahren adaptiert wurden, aber noch vor dem Einzug des urbanen Lotterlebens in die TV-Landschaft? Damals wuchsen Jugendliche in stubenreinen Kleinstädten auf. Sie hatten Liebeskummer, litten unter Akne und an der Pubertät, stritten sich auf dem Pausenhof, vertrugen sich wieder, schrieben ab und fühlten sich von ihren Eltern grundsätzlich missverstanden. Ein überschaubares Universum.
Die dunkle Seite der (Serien-)Macht
In diesen längst vergangenen Zeiten kamen etwa die melancholischen Jungs und Mädchen aus „Dawsons’s Creek“ (1997–2003) und das in Turbogeschwindigkeit schnatternde Mutter-Tochter-Paar der „Gilmore Girls“ (2000–2007) wie entfernte Cousins und Cousinen aus den USA zu Besuch. Selbst wenn dem Zuschauer weder das Südstaatenflair North Carolinas – wo der fiktive Ort Capeside in „Dawson’s Creek“ angesiedelt war – noch der Holzbudencharme von Stars Hollow, wo die „Gilmore Girls“ wohnten, vertraut war, konnte er sich in ihre Lebenswelten einfühlen und verstand den Code. Die Aggregatzustände des Erwachsenwerdens nahm man in diesen launigen, aber sittsamen Seifopern ironisch oder verzweifelt, romantisch oder kämpferisch wahr, und als Gruppe verhielten sich die Jugendlichen Erziehungsberechtigten gegenüber konspirativ.
Auf der dunklen Seite der (Serien-)Macht intrigierten derweil die Reichen und Schönen in „Dallas“ (1978–1991), diktierten im „Denver-Clan“ (1981–1989) mit tief dekolletierten Cocktailkleidern und Schulterpolstern die neue Mode außerhalb des abgezirkelten Bildschirms und parkten bereits in der Adoleszenz ihre dicken Schlitten vorm örtlichen Schulgebäude in „Beverly Hills, 90210“ (1990–2000). Erst nach fast 300 Episoden wurde der Jugendserienexport aus den USA eingestellt.
Luxus als Minenfeld
Seit September 2008 läuft die erste Staffel seines Widergängers „90210“ im US-Fernsehen, der nur noch die Postleitzahl von Beverly Hills im Titel trägt. Fast fünf Millionen Zuschauer folgten der neuen Generation genusssüchtiger Teenager bei ihren Gehversuchen auf bewährtem Parkett, die unter anderem von Jennie Garth und Shannen Doherty, zwei früheren Hauptdarstellerinnen aus „Beverly Hills, 90210“ begleitet wurden. Inzwischen ist das Interesse deutlich gesunken, aber der produzierende Fernsehsender hält an seinem Markenprodukt fest. Die erste Folge beweist auf jeden Fall, dass das Luxusmilieu ein Minenfeld sein kann. Bereits der Parkplatz vor der Schule bietet dem Mädchenliebling Ethan die Gelegenheit, einen morgendlichen Blow Job an sich ausüben zu lassen. Ungünstig, wenn er von seiner alten Bekannten Annie überrascht wird, deren Bruder in einem Akt der Revanche via SMS die Freundin Ethans von dessen Betrug in Kenntnis setzt. Griechische Tragödien hätten in wenigen Minuten nicht mehr Traumata entfalten können.
Nicht ganz so klapperdürr wie ihre kalifornischen Schwestern bewegen sich die in edelstem Zwirn gekleideten jungen Damen mit wallenden, glänzenden Haarmähnen und die adretten Herren in der TV-Serie „Gossip Girl“ durch die Straßenschluchten Manhattans. Zumeist transportiert sie eine gut gepolsterte Stretchlimousine zur „noblen Knaben- und Mädchenschule“, ein Portier mit weißen Handschuhen öffnet die Tür, wenn sie in ihren „bewachten Apartmenthäusern am Central Park“ angekommen sind und auf der „elfenbeinweißen Treppe vor dem Metropolitan Museum of Art“ sitzen sie wie hin gegossen in optischer Perfektion. Auch dies ist ein überschaubares Universum.
Materialismus und Konsumbekenntnis
Als einen „exklusiven Kreis unbeschreiblich gut aussehender junger Menschen“, charakterisiert die 38-jährige New Yorker Autorin Cecily von Ziegesar ihre Figuren in dem Band „Gossip Girl – Wie alles begann“. Nach zwölf aufeinander folgenden Büchern aus der Jugendreihe, die in den USA seit 2002 erscheint und zu einem Bestseller wurde, rekapituliert sie in ihrem 13. Werk, das im vergangenen Jahr auf Deutsch publiziert wurde, die Anfänge der Geschichte über die Clique um Serena van der Woodsen und Blair Waldorf. „Ihr Zynismus würde Hanni und Nanni zu Tode erschrecken“, kommentierte die „Süddeutsche Zeitung“ nach Verlagsangaben die „Gossip Girl“-Bücher. Von Ziegesars Beschreibung der Upper Class auf der „goldenen Meile“ Manhattans trieft vor Sarkasmus, und sie konstruiert mit kulturellen Querbezügen Dramen epischen Ausmaßes.
Da assoziiert jemand eine Person mit „Oscar Wilde auf Pilzen“, eine Debütantin liest in dem Gesellschaftsroman „Zeit der Unschuld“ von Edith Wharton und macht sich Gedanken über die BH-Größe der Hauptfigur, bevor sie sich zwischen ihre kühlen Hello-Kitty-Bettlaken schmiegt. Mit ihrem konzeptionellen Marken- und name dropping erinnert von Ziegesar an einen rohen Meister dieser Zunft, an Bret Easton Ellis’ „American Psycho“ (1991). Bei ihr gleitet die Zurschaustellung des Materialismus und das auf die Spitze getriebene, ständig zu erneuernde Konsumbekenntnis aber nicht in die unversöhnliche Wucht des Serienmordes ab, sondern schichtet sich zu einem mit wechselnden Labels, Designern und Beziehungskonstellationen dick aufgetragenen Panorama.
Konformität und Ernsthaftigkeit
Becky Sharp, die Aufsteigerin aus William M. Thackerays „Jahrmarkt der Eitelkeit“ (1847/48) hätte ihre Freude gehabt an dem von Eigennutz geprägtem Gruppengefüge. Bei der Übertragung von einem Medium ins andere, also bei der seriellen Aneignung von „Gossip Girl“ für das Fernsehen, blieben die den Büchern inhärenten kulturellen Anspielungen und deren ironische Subversion auf der Strecke. Konformität und eine irritierende Ernsthaftigkeit durchzieht die erste Staffel, die jetzt auf Pro Sieben zu sehen ist. Sie wirkt wie eine eskapistische Variante von „Sex and the City“ mit experimentierfreudigen Minderjährigen, die aber selbst Hanni und Nanni nicht erschrecken würde.
Ab 18. April immer samstags: „Gossip Girl“ um 16 Uhr, „90210“ um 17 Uhr auf Pro Sieben