Essen. „Ein Schriftsteller“, fand Siegfried Lenz, „ist ein Mensch, der niemanden zwingt, das zu sein, was er ist.“ Seine Romane haben sich nie in ideologischer Überredung versucht und waren doch stets auch so politisch wie ihr Autor selbst. Am Dienstag starb Lenz im Alter von 88 Jahren.
Siegfried Lenz war der Menschenfreund unter den Großschriftstellern seiner Zeit, er war eine Verkörperung seiner Romane: ein leutseliger, geborener Erzähler wie Großväterchen Hamilkar Schaß mit viel Freude an der guten Anekdote und grundhöflich bis in seine Romane hinein, die dem Leser immer nur einen Blick auf Welt und Wirklichkeit anbieten wollten - zur Probe, ob man sie damit ein wenig besser erkennen konnte.
„Ein Schriftsteller“, fand Lenz, „ist ein Mensch, der niemanden zwingt, das zu sein, was er ist.“ Seine Romane haben sich nie in ideologischer Überredung versucht und waren doch stets auch so politisch wie ihr Autor selbst. Sie erkundeten die Ränder der Freiheit, so wie Lenz in seiner hellsichtigen Rede als Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 1988 „Am Rande des Friedens“ auf die ungerechte Verteilung der Güter der Welt, ihre Waffenarsenale, auf den Historikerstreit um die Unvergleichbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen blickte.
Lenz zählte zu den wenigen großartigen Autoren, die geliebt wurden
Und doch zählte Siegfried Lenz zu den wenigen großartigen Autoren, die gemocht, ja geliebt wurden – von den einen für den derben Humor à la „So zärtlich war Suleyken“, von anderen für sein spürbare Zuneigung zu den Figuren seiner Romane bis in irrlichternde Typen wie den Maler Hansen in seiner „Deutschstunde“, die den schwierigen Umgang mit dem Nationalsozialismus bis in die Gegenwart der 60er-Jahre hinein illustrierte.
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Der 1926 im masurischen Lyck geborene Lenz war durchdrungen von der Liebe zu seiner alten Heimat, wo er als Kind ins Eis eingebrochen war – seit man ihn aus dem Wasser gezogen hatte, glaubte er fest, ihm könne nichts Übles mehr passieren. Wie Alfred Andersch machte allerdings auch Lenz das Ur-Erlebnis seines politischen Lebens am Ende des Zweiten Weltkriegs durch: Als 17-Jähriger hatte er sich 1943 gar nicht ungern zur Marine einziehen lassen, doch ein barbarisches Marinegerichts-Urteil in Tagen, als die deutsche Kapitulation schon absehbar war, empörte Lenz so sehr, dass er desertierte. Er formte diesen Stoff 1984 zu einer seiner besten Erzählungen, die wie so manches Lenz-Buch in bester Fernseh-Manier verfilmt wurde: „Ein Kriegsende“.
Lenz schlug sich als Schwarzmarkthändler, Übersetzer und Journalist durch
Nach dem Krieg schlug Lenz sich als Schwarzmarkthändler, Übersetzer und Journalist durch, bevor 1951 mit „Es waren Habichte in der Luft“ sein erster Roman erschien, den Lenz später mit einem nachsichtigen Lächeln betrachtete. Sein Freund Marcel Reich-Ranicki hielt den an Hemingway geschulten Lenz für einen geborenen Kurzstreckenläufer, doch wie so oft bei „MRR“ traf das Pointierte nur halb zu. Denn so grandios Lenz sich auf die Kunstform des offenen Schlusses, des intensiv-abrupten Blicks auf Lebensgeschichten verstand, so sehr gelang es ihm in seinen besten Romanen, ganze Lebenswelten auszubreiten.
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Im 1978 erschienenen „Heimatmuseum“ brach der einstige, stets loyale Unterstützer von Willy Brandts neuer Ostpolitik auf intelligente Weise jedem Revanchismus, wie er bis dato noch auf den notorischen Treffen der Heimatvertriebenen gepflegt wurde, die Spitze. „Heimat“, sagte er einmal, „entdeckt man erst in der Fremde“.
Siegfried Lenz war ein weiser, geduldiger Mann
Seine späten Werke wie „Arnes Nachlaß“ oder „Fundbüro“ wirken wie ein letzter Gruß der alten Bundesrepublik an das vereinigte Deutschland, mit der Novelle „Schweigeminute“ über eine Liebe zwischen Lehrerin und Schüler aber ging Lenz 2008 noch einmal mit gewohnter Großartigkeit auf die Kurzstrecke. Das Buch war seiner Freundin Ulla gewidmet, die sich um ihn kümmerte, als 2006 seine Frau Lieselotte nach 57 Ehejahren dahinschied.
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Fast möchte man Siegfried Lenz den Helmut Schmidt der Nachkriegsliteratur nennen. Doch dieser weise Mann war unendlich viel freundlicher, geduldiger und lebenslustiger als sein alter Freund aus dem Kanzleramt. Umso trauriger, dass Siegfried Lenz am Dienstag mit 88 Jahren seinen letzten Atemzug getan hat.