Pilsen. . Bekannt durchs Bier, verrufen durch die Industrie: Ein Besuch in Pilsen, der Kulturhauptstadt Europas 2015, die sich auf dem Weg nach Westen sieht. Ab Januar setzt sie unter anderem auf Zirkus-Attraktionen, interaktive Stadtführungen und seit Jahrhunderten unaufgeführte Opern .
Die Organisatoren der Kulturhauptstadt Pilsen 2015 sitzen in einem Teil der Stadt, der seit alters „Hölle“ heißt, und zwar deshalb: Das Gelände fiel hier steil ab zum Flüsschen Mies, an dessen Ufer kleine Wohnhäuser standen; aber wer oben auf der Chaussee des Weges kam, der konnte die tiefer gelegten Häuser nicht mehr sehen, sondern nur den Rauch der Schornsteine. Und so ist es auch mit der Kulturhauptstadt, die sich da anbahnt: Langsam steigt Rauch auf, langsam kommt sie in Bewegung.
Und das Jahr zu planen, zu organisieren und durchzuhalten, dürfte ja sowieso die Hölle sein.
Zwischen Jugendstil und Sozialismus
Pilsen also, in Böhmen, Tschechien, 170.000 Einwohner, 60 Kilometer von der Grenze – so nah kommt Deutschland lange keine Kulturhauptstadt mehr. Man findet da eine dieser Städte vor, wie sie im Osten häufig unschlüssig über sich selbst herumstehen: Österreich-Ungarns Jugendstil mischt sich mit sozialistischem Beton und postsozialistischen Brachen. Einer dieser brachialen Kulturpaläste ist gerade mitten in der Stadt abgerissen worden, und was daraus wird, das weiß man noch nicht. Vermutlich das nächste Einkaufszentrum. Wenn’s dem Fortschritt dient. . .
Am 17. Januar 2015 wird das Geläut des Doms erstmals seit dem Einschmelzen im Krieg wieder komplett sein: Mit seinem vollen Klang wird das Hauptstadtjahr eingeleitet. Der künstlerische Leiter Petr Forman, Sohn des Regisseurs Milos Forman, formuliert dazu ein ganz großes Ziel: „Wir wollen mit der Kultur Menschen erreichen, die nicht von selbst kämen und die das auch nicht vermissen.“ Das Programm enthalte viele „leicht zugängliche Angebote auf hohem Niveau“.
Schwelgen im Barock
In Pilsen wird ganzjährig Zirkus gemacht: Internationale Zirkusgruppen ohne Tusch und Tiere treten von Januar bis November ständig auf. Industrieflächen werden geöffnet und bespielt; sie werden im Barock schwelgen, Smetanas Musik auf die Bühne bringen, den Maler Bohumir Lindauer ausstellen und den Architekten Adolf Loos. Auch die Krönungsoper von Kaiser Karl VI. soll zur Aufführung gelangen wie zuletzt 1728; mit der musikalischen Qualität habe das nichts zu tun, heißt es.
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Das Lieblingsprojekt von Programmdirektor Jiri Sulzenko ist ein anderes: „Skryte Mesto“ heißt es, „Die verborgene Stadt“, und ist eine Telefon-App. Man kann sich damit einem von neun oder zehn (fiktiven) Pilsenern anschließen, die durch ihr persönliches Pilsen führen: einem Skoda-Arbeiter oder einem 12-jährigen Kind, einem Pilsener im Weltkrieg, einem Pilsener im 19. Jahrhundert . . . Tatsächlich lotst die App Besucher auch in die Vorstädte , wo sie Einblicke in die Lebenswelten gewinnen sollen. „Open up!“ ist da das Motto für 2015, was man übersetzen kann mit „Pilsen öffne dich!“ – oder auch mit „Öffne dich für Pilsen.“
Aktiv das Image aufpolieren
Ehrlich gesagt, würde das Oberbürgermeister Martin Baxa wohl am liebsten so verstehen. „Wir wollen die Gelegenheit nutzen, unseren Ruf als schmutzige Industriestadt loszuwerden“, sagt der 39-Jährige. Man wolle „Touristen aus Deutschland und Österreich erreichen, wo der Titel Kulturhauptstadt ein großes Gewicht hat.“
Die Geschichte der Stadt war zutiefst bewegt im 20. Jahrhundert, wie ein kurzer Spaziergang über die Amerika-Straße belegt: Die war bis 1990 die Moskauer Straße, nachdem sie die Adolf-Hitler-Straße gewesen war, nachdem sie die Franz-Josef-Straße gewesen war. Und ein zweites Patton-Museum wird man in Europa so schnell nicht wieder finden: Nach dem US-General benannt, dessen Truppen die Stadt am 6. Mai 1945 unzerstört befreiten. Pilsen sei „eine Stadt auf dem Weg nach Westen“, sagt Baxa. Als kleine Kulturhauptstadt „bringen wir den einen Vorteil mit, bekannt zu sein durch das Bier“. Na dann: Auf Pilsen!
- www.pilsen.eu. Die Reise wurde unterstützt vom „Deutschen Kulturforum Östliches Europa“ und dem „Adalbert Stifter-Verein“.