Essen. Wie eine Familie zusammen mit dem ganzen Stadtviertel 1954 das “Wunder von Bern“ am Radio erlebte - und zugleich verpasste. Eine Geschichte des Bochumer Kabarettisten, Fußballologen und Buchautors Frank Goosen aus seinem Erzählband “Mein Ich und seine Leben“.

Ich kann mich kaum noch an Onkel Hanno erinnern. Als er, wie man bei uns sagt, „den Arsch zukniff“, war ich noch ein „Blag“, vielleicht gerade mal zweieinhalb Käse hoch. Von Onkel Hanno ist aber ständig geredet worden, auf den Geburtstagsfeiern und Beerdigungen, auf den Hochzeiten und den Osterkaffeetrinken. Er hatte im Krieg ziemlich was auf die Mütze bekommen, im wahrsten Sinne des Wortes: irgend etwas war ihm auf den Stahlhelm gefallen und hatte ihm das Hirn durcheinander gebracht. Immerhin musste er nicht mehr an die Front, wurde aber in den letzten Kriegstagen zum Volkssturm eingezogen und musste mit einem Sechzehnjährigen unsere Straße abriegeln.

Wie aussichtslos die Lage des tausendjährigen Reiches war, mag man daran ersehen, dass man Onkel Hanno bedenkenlos ein Gewehr in die Hand gab, mit dem er dann auch gleich zwei Schäferhunde und eine Ziege erlegte sowie dem Blockwart ins Bein schoss. Der machte sich gleich humpelnd auf den Weg zur Gestapo, doch unterwegs fiel ihm eine amerikanische Bombe auf den Kopf und der Blockwart ward über den ganzen Block verteilt, und Onkel Hanno kam noch mal davon.

Onkel Hannos Schlachtruf

Vorsichtshalber jedoch ist er geflohen. Ein paar Tage lang hörte niemand etwas von ihm, dann hieß es, er sei in amerikanischer Gefangenschaft – was ziemlich merkwürdig war, denn das Ruhrgebiet gehörte zur britischen Besatzungszone und Onkel Hanno war doch wohl kaum nach Kaiserslautern oder Heidelberg gelaufen, wo die Amis saßen, lagen, standen. Ein paar Wochen behielten sie ihn bei sich, dann war ihnen klar, dass keine Ge-fahr von ihm ausging, und sie brachten ihn nach Hause.

Bei den Amis hatte Onkel Hanno aber seinen ganz persönlichen Schlachtruf gelernt, mit dem er bis zu seinem Tode die Familie terrorisierte. Völlig unvermittelt schrie er manchmal: „Strike, Bossa Nova, strike!“ Niemand wusste, was das bedeuten sollte, und allen ging es auf die Nerven, aber das war dem Onkel egal, denn er war jetzt der Familienidiot und durfte alles.

Selbstgemalt

Außerdem malte Onkel Hanno. Kleine blöde Bilder, auf denen Verwandte zu sehen sein sollten. Tatsächlich aber sah alles aus als hätte man einen Frosch auf weißem Papier totgeschlagen. Aber der Onkel hatte ja sonst nichts, an dem er sich erfreuen konnte, also sagten alle, die Bilder seien aber wirklich sehr schön. Onkel Hanno baute sich selbst Rahmen aus einfachem Holz und einer Scheibe Glas und rahmte seine Bilder wie Kunstwerke eines genialen, aber leider schwachsinnigen Geistes.

Er ließ es sich nicht nehmen, die Produkte seiner Kreativität in den Wohnungen aller wohlmeinenden Verwandten und Bekannten, die sich nicht deutlich genug wehrten, aufzuhängen, und zwar höchstselbst. Zu diesem Zwecke hatte er sich von seinem Bruder, der ihm gesetzlich vorgesetzt war, eine ganz eigene Bohrmaschine erbettelt, und so zog Onkel Hanno von Haus zu Haus, bohrte Löcher und hängte seine gerahmten Kunstwerke in jedermanns Wohnung auf. Die Bohrlöcher passten den Leuten nicht, aber sie ließen Hanno machen, immerhin war er bescheuert.

Zum Anpfiff saß die ganze Familie vor dem Radio

Es gibt viele Geschichten über Onkel Hanno, die alle zur Familienmythologie gehören, aber besonders gern erzählen Zeitgenossen die aus dem Juni 1954. Die ganze Siedlung war obenauf, denn Fritz und Ottmar, der Boss, Toni, der Chef und all die anderen standen im Finale und wussten selbst nicht, wie sie dahin gekommen waren und jetzt ging es noch mal gegen die Ungarn, die uns in der Vorrunde mit Acht zu drei eingesargt hatten.

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Aber heute war Finale, sagten alle, die Karten wurden neu gemischt. Als in Bern angepfiffen wurde, saß die ganze Familie, sogar die Frauen, und noch einige Leute aus der Nachbarschaft vor dem Radio meiner Urgroßeltern, jenem Gerät, über das schon Goebbels zum totalen Krieg gebrüllt hatte, und den das Gerät wie zum Trotz überlebt hatte. In Bern nieselte es.

Unterm Arm die Bohrmaschine

„Dat is dem Fritz sein Wetter“, zitierte mein Uroppa den Chef, denn Nieselregen, das war Fritz-Walter-Wetter, damit kam der gut klar, und das war ja schon mal die halbe Miete. Und die Ungarn waren bestimmt ganz anderes Wetter gewohnt. Welches, war nicht ganz klar, aber bestimmt ganz anderes.

Onkel Hanno erschien als Vorletzter, unterm einen Arm ein selbstgemachtes Bild der deutschen Fußballnationalmannschaft mit allen Spielern nebst Ersatzkräften, dem Chef und noch dem letzten Ballaufpumper, unterm andern Arm die Bohrmaschine.

„Na Hanno“, sagte meine Uromma, „dat mit die Bohrmaschine vergessenwa heute abba ma!“

„Strike, Bossa Nova, Strike!“, rief der Onkel und präsentierte sein neuestes Werk.

„Wat is dat denn?“, wollte meine Uromma wissen. „Dat sieht ja aus wie verdaut!“

Es wurde Bier getrunken, obwohl es erst Nachmittag war, und auch Onkel Hanno bekam eine Flasche, obwohl er das nicht vertrug, aber es war ja Finale, da konnte man mal eine Ausnahme machen.

Der alte Herr Stankowski kam ein paar Minuten zu spät und blieb im Türrahmen stehen. Er sagte, er habe noch seine Zähne suchen müssen. Dummerweise hatte er sie nicht gefunden. Wenn er Wörter mit s sprach, rotzte er Tante Hilde auf den Dutt.

„Waat ma ap!“ 

Die anfänglich heitere und gelöste Stimmung verschwand, als die Ungarn schon nach acht Minuten Zwei zu Null führten, durch Tore von Puskas und Czibor. Onkel Hanno hatte nach beiden Toren begeistert seinen Schlachtruf losgelassen und in die Hände geklatscht. „Halt’s Maul, du Idiot oder ich schmeiß deine letzten Gehirnzellen auch noch in die Pfanne“, sagte meine Uromma. Der Umgangston in unserer Familie war schon immer eher zupackend.

„Tja“, kommentierte mein Uroppa den Zwischenstand, „da is wohl nix zu machen. Da wolltense dem Paster auf die Mütze scheißen, aber dann hatterse noch abgesetzt.“ Niemand wusste, was das bedeuten sollte, denn wenn der Paster die Mütze abgenommen hatte, dann konnte man ihm doch direkt auf den Kopf scheißen, und das war doch eindeutig besser als nur auf die Mütze. „Ich habbet ja gleich gesacht!“, meinte mein Uroppa und hatte schon mit allem abgeschlossen.

Der Uroppa schnuppert Morgenluft

„Waat ma app!“, mahnte Herr Stankowski und nässte zum wiederholten Male Tante Hildes Hinterkopf, obwohl in dem Satz doch gar kein ‚s‘ vorgekommen war.

Zwei Minuten später nur erzielte der große Max Morlock dann den Anschlusstreffer und als sich alle fast die Seele aus dem Leib gejuchzt hatten, rief mein Uroppa: „Morgenluft!“

Acht Minuten später war der Boss zur Stelle: Helmut Rahn machte ihn rein, und alles war wieder offen. „Habbich doch gleich gesacht!“, meinte mein Uroppa. „Nich so schnell den Hering wieder innet Wasser werfen!“ Alle pflichteten ihm bei. 27 nervenaufreibende Minuten später ging man in die wohl verdiente Pause.

Es ging dem Ende zu

In der zweiten Halbzeit ging es hoch her, wie man sich denken kann und wie immer wieder erzählt wurde. Die Magyaren, allen voran der große, edle Ferenc Puskas, pflügten die deutsche Hälfte, bis man Steckrüben hätte säen können. Posipal, Kohlmeyer, Eckel, Liebrich, Mai, Rahn, Morlock, Schäfer, Fritz und Ottmar standen wie eine Eins und wenn sie mal nicht standen, war da noch der Turek, der Toni, der Fußball-Gott. Es war allerhand los im Wohnzimmer meiner Urgroßeltern und bald waren alle besoffen, aber nicht nur vom Bier. Onkel Hanno rutschte auf seinem Stuhl hin und her und bekam es wohl langsam mit der Angst. Die Spannung war kaum noch erträglich. Es ging dem Ende zu.

Und irgendwann hielt es Onkel Hanno nicht mehr aus. Er stand auf und irrte durch die Wohnung, von niemandem beachtet, denn im Äther entschied sich Deutschlands Schicksal. Aus dem Wohnzimmer hörte er immer wieder lautes Rufen und Aufstöhnen, dass es auch einem bange werden konnte, der im Krieg nichts auf die Mütze bekommen hatte.

Neben dem Sicherungskasten

Und so griff Onkel Hanno bald nach dem gerahmten Bild der deutschen Treter-Helden sowie nach der vom Bruder geschenkten Bohrmaschine und suchte ein schönes Plätzchen in der Diele, wo er sein Werk anbringen konnte.

Es waren nur noch sechs oder sieben Minuten zu spielen. Jeder Schuss konnte das Ende bedeuten, die Entscheidung, den achten Mai, Befreiung oder Katastrophe. Die Stimme des Herrn Zimmermann im Radio überschlug sich fast. „Puskas schießt, gehalten auf der Torlinie, Toni, Toni, du bist Gold wert, Halten Sie mich für verrückt!“

Onkel Hanno hatte inzwischen einen schönen Platz für sein Bild gefunden. Gegenüber der Wohnungstür sollte es sein, damit man es beim Hereinkommen sofort sah, gleich neben dem Sicherungskasten.

„...aus dem Hintergrund müsste Rahn...“ 

Kaum einer hörte das Rasseln der Bohrmaschine, obwohl alles sonst still war, denn alles hielt den Atem an, als der Herr Zimmermann rief: „...und aus dem Hintergrund müßte Rahn schießen, Rahn schießt und....“ Und dann verstummte der Herr Zimmermann und das Licht ging aus und das Rasselgeräusch der Bohrmaschine verstarb ganz langsam und alle waren wie vor den Kopf geschlagen und starrten den stummen Haufen Holz an. Niemand rührte sich. Dann hörte man von draußen laute Panik-Schreie: „WASNDALOS!? WELCHE SAU WAR DAS? STEHT DER RUSSE VOR DER TÜR?“.

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Mein Uroppa stürzte ans Fenster, riss es auf und war bald darauf in einen heftigen Wortwechsel mit so ziemlich allen Nachbarn in der ganzen Straße verwickelt. Ergebnis: In der ganzen Straße, ja offenbar im ganzen Viertel war der Strom weg. Und natürlich hatte es alle im selben Moment erwischt: „...aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt und...“ Und bald darauf war das Spiel aus, aus, aus, aber das ahnten alle nur und alle fragten sich, sind wir jetzt wieder wer oder nicht? Und dann ging meinem Uroppa auf, wer nur dafür verantwortlich sein konnte Er rannte in die Diele und fand Onkel Hanno völlig fassungslos die noch in der Wand steckende Bohrmaschine umklammernd. Mit vor Schreck geweiteten Augen murmelte der Onkel: „Strike, Bossa Nova, Strike?“

Da sagte mein Uroppa nur: „Hanno, du biss bescheuert.“ Und Onkel Hanno lächelte glücklich, denn diese Feststellung war nicht zu leugnen.

Dann kam Herr Stankowski dazu, mit hektischen Flecken im zahnlosen Gesicht und rief: „Wat is, ham wa den Gulaschfressern getz in die Hütte gekackt oder nich?“

Uroppa blaffte zurück: „Stankowski, rotz mi ni an!“

Noch Jahre später

Kurz darauf saßen alle wieder im Wohnzimmer und beluden sich mit allem, was da war. Und in der Nachbarschaft war man mittlerweile auf die Idee gekommen, zum Telefon zu greifen, und bald wussten es alle: Man war wieder wer.

Noch Jahre später war man sich einig, dass es ohne Onkel Hanno und die Bohrma-schine und den Stromausfall nicht halb so schön gewesen wäre, und nie hat man sich in meiner Familie für Fernseh-Live-Übetragungen und siebzehn Zeitlupen zu einem Tor be-geistern können.

Und als Onkel Hanno 1974, kurz bevor Herbergers Erben in München den Hollän-dern zeigten, wo der Käse wächst, an den Spätfolgen seiner Kriegsverletzung starb, ließ es sich mein Uroppa nicht nehmen, ihm höchstselbst etwas in den Grabstein zu meißeln. Und das findet ihr auf keinem Stein, wohl in der ganzen Welt. „Strike, Bossa Nova“, stand da, „Strike!“ Und da drunter: „Er war bescheuert. Aber wir hatten eine Menge Spass mit ihm.“

  • Frank Goosen, geb. 1966, debütierte 2001 mit dem Roman „Liegen lernen“, 2003 folgte der Literaturpreis Ruhr. Zuletzt erschien von ihm „Raketenmänner“. „Strike, Bossa Nova, strike!“ stammt aus dem Band „Mein Ich und sein Leben“.