Berlin. . Fast am Ende der Berlinale hat das Festival doch noch seinen ganz großen Sieger-Favoriten: Der amerikanische Film „Boyhood“ von Regisseur Richard Linklater hat jedenfalls für viel Begeisterung beim Publikum gesorgt. Wir schließen uns dem Beifall an.
Es kommt sehr selten vor, dass sich die Filmkritiker so einig sind wie dieses Mal: Der Wettbewerbsbeitrag „Boyhood“ des amerikanischen Regisseurs Richard Linklater ist der absolute Bären-Favorit der Berlinale. In einem fast dreistündigen Epos wird das Heranwachsen eines Jungen von der ersten Klasse bis zum Schulabschluss gezeigt. Das Besondere: Linklater drehte mit seinen Hauptpersonen über einen Zeitraum von mehr als zwölf Jahren. Die Szenen entstanden stückweise Jahr für Jahr, und die Kamera protokollierte dabei auch optisch höchst eindrücklich das Dahinfließen der Zeit, das Wandeln, das Älterwerden - in den Figuren der Kinder wie auch bei ihren Eltern.
Vor 19 Jahren bekam Richard Linklater (53) einen Silbernen Bären für seinen Film „Before Sunrise“, jetzt hat er fraglos einen Goldenen verdient.
Die eigene Tochter spielt mit
Ethan Hawke und Patricia Arquette verkörpern in „Boyhood“ Vater und Mutter. Sie sind bereits geschieden als die Geschichte beginnt, werden andere Partner heiraten und sich abermals scheiden lassen. Regisseur Linklater hat praktischerweise seine eigene Tochter Lorelei das Mädchen Samantha spielen lassen, der Junge wird von Ellar Coltrane verkörpert.
Er habe einfach ganz großes Vertrauen in seine Darsteller gesetzt, dass sie etwa auf halber Strecke nicht mehr mitmachen würden, bekennt der Regisseur dankbar. Und der Zuschauer kann sich diesem Dank nur anschließen. Der Film kommt ganz ohne Sex und Gewalt aus und ist dennoch hoch spannend und ungemein berührend. „Boyhood“ spiegelt eine typische US-Familie mit all ihren Höhen und Tiefen, Wünschen, Enttäuschungen, Freuden, Entbehrungen, Rückschlägen und Erfolgen.
Alles wirkt wie aus einem Guss, obwohl es sich hier doch um ein ganz außergewöhnliches Langzeit-Experiment handelt. Von Beginn an habe er lediglich ein grobes Gerüst für die Handlungsentwicklung gehabt, erklärt der Regisseur. Die Feinheiten, die Dialoge seien stets aktuell und unmittelbar entstanden. Faszinierend dabei auch, dass der jeweilige Zeitgeist sehr direkt Einfluss auf das Geschehen nimmt. So wird beispielsweise der radikale Medienwandel der vergangenen Dekade bis zum jüngsten NSU-Skandal mit eingearbeitet - eine Art „Lindenstraße“ auf amerikanisch und auf Breitwand.
In den vorbeiziehenden Bildern wird sich auch der Zuschauer seines eigenen Werdegangs bewusst; die fiktive Reflexion der Filmebene wird zur historischen Kulisse für das ganze Publikum.
Eine Fortsetzung wäre schön
„Boyhood“ ist einfach das pralle Leben. Ein Film, der zeigt, wie eine Familie, die ja eigentlich gar keine mehr ist, mit den kleinen und größeren Katastrophen umgeht. Weinen und Lachen wechseln sich ab, und Stillstand gibt es nie. Regisseur Richard Lonklater ist es gelungen, im Normalen das Besondere, das Typische zu erkennen und dies so zu inszenieren, dass es keinen Augenblick langweilig wirkt. Man wünscht sich, die Geschichte würde noch einmal zwölf Jahre weiter gehen; es wäre fraglos genügend Stoff und nachgewiesenes Talent für eine Fortsetzung vorhanden. Jetzt aber heißt es erst einmal Daumen drücken für den Goldenen Bären, der heute verliehen wird.