Gelsenkirchen. Jubel bei der “Cabaret“-Premiere: Gelsenkirchens Musiktheater im Revier wandelt sich zum Nachtclub. Regisseurin Sandra Wissmann lotet in geschickt die Balance aus zwischen populärem Entertainment und der dräuenden Katastrophe durch den einbrechenden Nazi-Terror, zwischen Spaß und Tragödie.

„Willkommen“, begrüßt der livrierte Saaldiener charmant den Gast und reicht ihm die Hand. „Willkommen, Bienvenue, Welcome“ wird es später auch von der Bühne erklingen. Die perfekte Illusion aber beginnt gleich hinter der Eingangstür zum Kleinen Haus des Musiktheaters im Revier, wenn der Besucher eintaucht in die magische Welt des verruchten Berliner Kit-Kat-Klubs. Bei der stürmisch umjubelten Premiere des Musicals „Cabaret“, mit der das MiR seine Spielzeit glanzvoll eröffnete, ist das Publikum mittendrin statt nur dabei, herrliche drei Stunden lang.

Regisseurin Sandra Wissmann knüpft mit ihrer im besten Sinne plüschigen Sicht auf das Musical von John Kander, Joe Masteroff und Fred Ebb mühelos an ihre letztjährige, stets ausverkaufte Erfolgsproduktion der „Comedian Harmonists“ an. Hier wie da lotet sie in nostalgischem Ambiente geschickt die Balance aus zwischen populärem Gesangs- und Tanz-Entertainment und der dräuenden Katastrophe durch den einbrechenden Nazi-Terror, zwischen federleichtem Spaß und tiefer Tragödie.

Kult-Status durch Verfilmung mit Liza Minelli

„Cabaret“, ein Stoff, der spätestens 1972 durch die legendäre Verfilmung mit Liza Minelli Kult-Status erreicht hat, erzählt vom rauschhaften Tanz auf dem Vulkan. Von Menschen, die sich im herunter gekommenen Nachtclub die Welt schön saufen, während dunkle Wolken überm Himmel von Berlin aufziehen.

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Das Bühnenbild von Dirk Becker bespielt das komplette Haus, verwandelt die sonst kühle Architektur in eine üppige Rotlicht-Kaschemme mit fantasievoll kostümiertem Personal (Uta Meenen). Holzstühle und Bistrotische mit Barlämpchen, an denen Sekt, Selters, Salzstangen und Kanapees serviert werden, ersetzen die Parkettbestuhlung. Auch das spiel- und tanzfreudige Ensemble nutzt den ganzen Raum mit lustvoll aufgeladenen Choreographien von Sean Stephens.

Roter Samt und Netzstrümpfe

Star der Truppe ist Mark E. Murphy als öliger, diabolischer Conferencier. Wenn er den Finger lockend durch den roten Samtvorhang streckt und im frivolen Outfit mit Netzstrümpfen und Lackschuhen seinen Welcome-Song mit schneidend-geschmeidigem Tenor intoniert, katapultiert er sein Publikum mitten hinein in die derb-frivole Unterwelt, die ähnlich wie die Weimarer Republik längst dem Untergang geweiht ist. Die wunderbaren Kit-Kat-Girls tragen statt Glitzer-Outfit Omas beige Miederware, räkeln sich dafür aber in eindeutig zweideutigen Posen am Bühnenrand, derweil sich die Boys in homoerotischen Spielchen erproben.

Judith Jakob gibt eine mädchenhaft aufgedrehte Nachtclub-Sängerin Sally Bowles, in die sich der amerikanische Schriftsteller Cliff Brad­shaw (stimmig brav und naiv Alen Hodzovic) verliebt. Diese Liebesgeschichte fällt am Ende ebenso den erstarkenden braunen Mächten (die Michael Dahmen als Ernst eindringlich verkörpert) zum Opfer wie die anrührend zart gespielte Liaison zwischen der biederen Pensionswirtin Schneider (Christa Platzer) und dem jüdischen Obsthändler Schultz (Joachim Gabriel Maaß). Als Sohn von Fräulein Kost brilliert Schüler Nicolas Groß mit dem Song vom morgigen Tag.

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Sandra Wissmann gelingt große Unterhaltung mit Tiefgang

Für den stimmig treibenden, jazzigen Sound zu Songs wie „Money, Money, Money“ oder „Mein Herr“ sorgt die agile Combo unter Leitung von Wolfgang Wilger.

Auch ohne Betroffenheitsgehabe und aktuelle Eingriffe in den Stoff gelingt Sandra Wissmann große Unterhaltung mit Intelligenz und Tiefgang; da berühren Momente, in denen Lachen in Grauen umschlägt. Am Ende kommt der Welcome-Song nur noch verfremdet und zerdehnt über die Rampe.

Großer Premierenjubel.

40 Mal wird „Cabaret“ im Musiktheater im Revier gezeigt. Karten: 28-38 Euro: 0209 4097-200. www.musiktheater-im-revier.de