Essen. Die Autorin Helene Hegemann, die mit „Axolotl Roadkill“ eine Plagiatsdebatte auslöste, über Familien und Vorbilder, die Literatur und das Leben. Ihr neue Roman „Jage zwei Tiger“ ist ein Gegenstück zu ihrem dramatisch umwölkten Debüt.
Die heute 21-jährige Helene Hegemann ist die wohl jüngste Autorin, nach der je eine Debatte benannt wurde: Weil sie einige Absätze ihres 2010 veröffentlichten Debütromans „Axolotl Roadkill“ aus einem Internetblog abschrieb, geriet sie ins Zentrum einer Plagiatsdiskussion um Echtheit und Kunstfreiheit. Wie eine „Naturkatastrophe“ fühlte sie sich damals behandelt, sagt Helene Hegemann heute – und sprach mit Britta Heidemann lieber über ihren neuen Roman „Jage zwei Tiger“.
Frau Hegemann, Sie haben im neuen Roman nicht nur einen „Quellennachweis“ angehängt, sondern danken auch einer Reihe von Leuten „für massiven Einfluss“ – weil ein Statement dazu, dass jede Kunst auf Fremdinspiration beruht?
Helene Hegemann: Rene Pollesch hat den Begriff „Inspiration“ in einem seiner Stücke mal als „bürgerliche Scheiße“ bezeichnet – ich musste damals sehr darüber lachen, inzwischen weiß ich auch warum. Menschen sind soziale Wesen und auf Geschichten über sich selbst und fremde Lebensentwürfe angewiesen. Inspiration ist also nicht der sphärische Allgemeinplatz, an dem man einige verrückte Künstler verortet, sondern liegt schlicht im Interesse an anderen Denkweisen, ohne das man keinen Schritt weiterkäme als in die Klapse.
Wenn ich meinen Freunden danke, oder Künstlern oder anderen Autoren, dann deshalb, weil sie mich mit ihrer Haltung zum Leben beeindruckt und geprägt haben.
Inwiefern?
Hegemann: Weil mir ihr Erzählgestus oder ihre Formulierungswut beigebracht hat wie man über Sprache bestimmte Zustände transportiert und weil ich es ohne nette Menschen nicht geschafft hätte, ein Jahr lang am Schreibtisch zu sitzen. Das Quellenverzeichnis besteht auch hauptsächlich aus Verweisen auf Songlyrics: Die Musikbranche hat einen kleinen Knall, mein Verlag musste alleine für die Erwähnung, dass sich die Hauptfigur in Kapitel 20 einen Madonnasong anhört, umgerechnet zwei meiner Monatsmieten an Madonnas Plattenfirma zahlen.
Im Roman suchen drei Teenager, Kai, Samantha und Cecile, Orientierung. An einer Stelle im Buch spricht überraschend ein „Ich“: „Es geht hier nicht um mich, es geht um Teenager in Extremsituationen.“ Also dürfen wir nicht den Fehler machen, das Buch autobiografisch zu deuten?
Hegemann: Nein, diesen Fehler sollte man nie machen. Weder bei Romanen noch bei Dokumentationen, auf denen „knallharte Realität“ draufsteht. Ich habe glücklicherweise weder mit Kokain gedealt, noch in einem Schloss oder einem Zirkus gelebt, geschweige denn eine Skulptur in meiner Matratze versteckt, die 500.000 Euro wert ist – letzteres ist eigentlich schade. All das verhandelt nicht mein eigenes Leben, was auch wirklich ein bisschen zu langweilig wäre, sondern ist eine durchkonstruierte Story mit Figuren, die ich mag, weil sie ähnlich denken wie ich.
Sie scheinen zu implizieren, dass Familie nur eine Art Rahmenprogramm ist. So sagt Samantha einmal, sie sei „in Verhältnisse hineingeboren, in denen ich tun muss, als sei ich ein debiles Proletengirl.“
Hegemann: Wie, glauben Sie, werden wir zu dem Menschen, der wir sind?
Ganz simpel durch die Menschen, die uns etwas vorleben, was wir intuitiv für spannend und richtig halten. Wenn die Eltern zu blöd oder zu unberechenbar sind, tun das, auch nichts Neues, Freunde, Lover oder im dümmsten Fall Bushido. Erziehungsstrategien funktionieren nicht. Die Familie als solche wird neuerdings für ein überholtes Konzept gehalten, nicht nur von mir.
Und warum hat sich die Familie überlebt?
Hegemann: Weil das die logische Konsequenz ist, wenn man sich das System, in dem wir leben, ansieht. Das basiert auf Vereinzelung, auf marktwirtschaftlichen Konkurrenzstrategien in ausnahmslos allen Bereichen. Jeder gegen jeden. Kinder oder Geliebte durch diesen Kampf mitzuschleifen ist völlig irrational, fast ein rebellischer Akt. Dem ich mich mit großer Freude verschrieben habe, ha. Ich halte Familie für die einzige Rettung, allerdings mit dem Vorsatz, dass familiäre Bindungen nicht ausschließlich durch Blutsverwandtschaft begründbar sind.
Sie selbst haben mit 15 ihren ersten Film fertig gestellt, mit 17 den ersten Roman veröffentlicht – werden Jugendliche heute unterschätzt?
Hegemann: Ich bin ganz bestimmt eher überschätzt worden. Hat sich aber, sage ich jetzt hämisch grinsend, sogar gelohnt. Man kann Jugendliche nicht verallgemeinern, genauso wenig wie Erwachsene, die in Positionen sind, Jugendliche einzuschätzen. Die Frage ist, ob jemand seine Einschätzung von einem Geburtsjahr oder der Person, die ihm gegenüber sitzt, abhängig macht.
Im Gegensatz zu „Axolotl Roadkill“ spielen für Ihre Protagonisten Drogen keine so elementare Rolle mehr, eher beobachten sie den Drogenkonsum der Erwachsen und versorgen diese sogar mit Kokain. Die Selbstzerstörungswut scheint jetzt im Gegenteil ein Selbsterhaltungstrieb zu sein, oder?
Hegemann: Sehr gut, dass Sie das ansprechen, ich dachte schon, das merkt keiner. Aber die Frage ist eher, ob Selbstzerstörungswut und Selbsterhaltungstrieb an einigen Stellen nicht vielleicht dasselbe sind. O Gott, das wird jetzt ein bisschen zu esoterisch.
Mein Eindruck von „Axolotl Roadkill“ war, dass Sie es nicht auf Empathie für Ihre Figur angelegt hatten – nun aber schon?
Hegemann: In „Axolotl Roadkill“ ging es, glaube ich, eher um das völlig ungefilterte Innenleben einer Figur, die in einer Extremsituation steckt – und in „Jage zwei Tiger“ geht es um die Extremsituationen als Elemente einer Geschichte. Was bedeutet, dass das Handeln der Figuren nachvollziehbar sein muss. Außerdem mochte ich die Figuren alle so gerne. Ich habe irre schnell festgestellt, dass ich die nicht untergehen oder sterben lassen kann.
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Bis zu ihrem 13. Lebensjahr wohnte Helene Hegemann in Bochum bei ihrer Mutter. Als diese starb, zog sie zu ihrem Vater, dem Dramaturgen Carl Hegemann, nach Berlin.
Ihr nunmehr zweiter Roman, „Jage zwei Tiger“ (Hanser Berlin, 288 S., 17,90 €) verbindet die Geschichten dreier Teenager: Kai sitzt neben seiner Mutter im Auto, als diese von einem Stein erschlagen wird, den Jugendliche von einer Autobahnbrücke werfen. Samantha, die einer Familie von Zirkusartisten entstammt, ist eine dieser Jugendlichen - und Kai, der das nicht ahnt, verliebt sich in sie. Cecile kämpft gegen ihre Drogensucht, reißt sich von ihren Eltern los, dealt selbst mit Drogen - und lernt in einer Bar Kais Vater kennen.
Bemerkenswert ist, wie schon im Debüt, die Sprache Helene Hegemanns: Ein übersteuertes Dahingeplauder, in dem ständig von „Partysituationen“ oder „Frührentner“ als „irre attraktives Alien“ bezeichnet werden - und hinter der doch die Nöte, die Verzweiflung der Figuren spürbar ist. Dabei sind die Jugendlichen in diesem Roman nicht auf der Suche, sie sind sich selbst genug, sie stolpern von einer „Situation“ in die nächste - und finden doch, eher zufällig am Wegesrand, Menschen, die ihnen Halt geben. Insofern ist „Jage zwei Tiger“ das positive Gegenstück zu Hegemanns dramatischen Debüt.