Essen. Die Liebesgeschichte „Léon und Louise“ hat den Erzähler Alex Capus einem breiten Publikum bekannt gemacht. Sein neuer Roman über die kolossale(n) Geschichte(n) des Menschseins dürfte sie nicht enttäuschen: „Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer“.
Laura hat ein „großes und weites Gefühl in ihrer Brust“, sie will eine bessere Sängerin werden als ihre Mutter, die nur mit Strumpfband und Dekolleté über ihre stimmlichen Schwächen hinwegtäuschen konnte. Denn täuschen, das will Laura nicht.
Physikstudent Felix hat keine Ahnung, ob seine Elektronen im selbstgebauten Spektographen „Hochsprung oder Weitsprung oder sonst was Schönes“ machen. Keinesfalls aber bedauert er, sich dem Vater widersetzt zu haben: Denn das Maschinenbau-Studium hätte ihn doch nur ins Räderwerk des Krieges katapultiert.
Er lässt Vergangenes auferstehen
Emile kann zeichnen wie kein Zweiter, doch wird sein Talent von keinerlei Ehrgeiz begleitet. Aus reinem Geldmangel nimmt er das Angebot an, für den Archäologen Heinrich Schliemann zu arbeiten – und lässt später auf Kreta seine Fantasie spielen.
„Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer“ heißt der neue Roman des Schweizer Autors Alex Capus, der schreiben kann wie kaum ein Zweiter und durchaus den Ehrgeiz besitzt, Vergangenes auferstehen zu lassen. Seine Romane haben Patina, ohne alt zu wirken. Bewiesen hat er dies zuletzt mit dem traumschönen, für den Deutschen Buchpreis 2011 nominierten Roman „Léon und Louise“, einer Liebesgeschichte im freien Spiel des Weltenlaufs – im Léon dieses Buchs setzte Capus dem eigenen Großvater ein Denkmal.
Melancholisch-abgeklärter Tonfall
Wer erwartet, wieder Ähnliches zu finden, wird nicht enttäuscht. Der melancholisch-abgeklärte Tonfall, das Dehnen und rasante Zusammenschnurren der Zeitfäden, die virtuose Dosierung von Details macht den neuen Roman erneut zum Hochgenuss. Auch diesmal sind die Figuren, drei Schweizer, historisch verbrieft. Vielleicht aber ist es ratsam, die Seite 2, die ihre Lebensdaten offenbart, zu überblättern. Man muss nicht wissen, dass Felix Bloch später noch den Nobelpreis erhielt, um atemlos zu verfolgen, warum der junge Pazifist in Oppenheimers Atombomben-Schmiede gerät.
Es ist schöner, sich erst von Emile Gilliérons fantasievollen Fresken-„Ergänzungen“ erzählen zu lassen, bevor man sich seinen großen Einfluss auf die „minoische“ Kunst in Knossos ergoogelt. Und auch das Ende der Spionin Laura d’Oriano, die ihren Ehemann und zwei Töchter auf einem Bauernhof in Bottighofen zurückließ, muss man nicht kennen, um ihr berührt durch die Hafenkneipen zu folgen – in die Arme italienischer Matrosen, die ihr bereitwillig vom nächsten U-Boot-Einsatz erzählen.
Obwohl der Stoff locker für drei Romane gereicht hätte, wirkt das fantasievolle Flechtwerk, das wechselreiche Erzählen in zeitlichen Sprüngen, nicht konstruiert: Im Kern ähneln sich die Geschichten, sind ein Echo der anderen. Capus lotet jene Größe aus, die im Scheitern liegt, und gibt seinen Figuren die Würde der Selbsterkenntnis.
Betriebsgeräusche der Seele
So ahnt Laura schon früh, dass weder ihr „weites Gefühl“ (noch sie selbst) etwas Besonderes wäre: „Dieses Gefühl nämlich, in das sie so lange ihre Zukunftshoffnung gesetzt hatte, war nichts weiter als das Betriebsgeräusch der Seele, das jeder lebendige Mensch in sich verspürt, wenn er im Weltengetümmel mal kurz innehält und ein bisschen auf sich achtgibt.“ Capus erinnert uns daran, auf unsere ureigenen Betriebsgeräusche Acht zu geben. Und er gibt uns ein Gefühl für die kolossalen Geschichte(n), auf die jedes einzelne Leben baut. Eine Wohltat in Zeiten, die stets dem Hier und Jetzt verpflichtet scheinen.