Ravensburg. Wer nicht mitfilmt, war nicht dabei: Bei vielen Kulturveranstaltungen werden Smartphones in die Höhe gestreckt, Zuschauer machen Fotos und Videos, die sie bei Facebook und Twitter posten. Bin ich wirklich erst dabei gewesen, wenn ich es im Internet dokumentiere?
Der US-Band «Yeah Yeah Yeahs» reichte es kürzlich: «Bitte schaut Euch die Show nicht am Bildschirm Eures Handys oder Eurer Kamera an», schrieben die Indie-Rocker in Englisch auf Schilder, die sie an den Eingang ihrer Konzerte hängten. «Steckt den Scheiß weg - aus Höflichkeit gegenüber der Person hinter Euch.» Denn wer heute in der Zuschauermenge eines Konzertes oder einer anderen Kulturveranstaltung steht, sieht statt der Bühne oft nur noch eines: Displays, Displays, Displays.
Mitfilmen statt mitfeiern heißt es für so manchen Zuschauer - und meist werden die Videos und Fotos möglichst schnell bei Facebook oder Twitter hochgeladen. Aber ist man denn wirklich erst beim «Southside Festival», bei «Rock am Ring» oder auch im Theater gewesen, wenn man das im Internet dokumentieren kann?
"Alle sollen wissen, wie toll wir sind"
Für viele gelte das so, sagt der emeritierte Psychologie-Professor und Coach Alfred Gebert aus Münster. «Alle sollen wissen, wie toll wir sind. Wir leben in einer Zeit, in der jeder sein Leben veröffentlichen und zeigen will.» Facebook wird dann schnell zur Plattform, auf der man sich genau so cool und aufregend darstellen kann, wie man es sich selbst wünscht.
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Zudem gebe ein selbst erstelltes Video einem das Gefühl von Individualität. «Man kann sagen: Das ist meins, das habe ich gemacht», sagt Gebert. «Wir kommen uns dabei fast vor wie ein Regisseur oder ein Künstler. Wir können etwas.» Hinzu komme der Drang, der erste zu sein, der genau jenen tollen Moment oder jenes Bild veröffentlicht hat. «Wir wissen zwar, wir werden kein Popstar, aber einen kleinen Kratzer auf der Erdspur hinterlassen möchte jeder.»
Pianist verlässt aus Protest die Bühne
Dass man vor lauter Fotografieren und Filmen Gefahr läuft, von der eigentlichen Veranstaltung nichts mitzubekommen, sei zweitrangig, sagt Gebert. «Die Leute, die das machen, interessieren sich gar nicht so wahnsinnig für das, was auf der Bühne läuft. Der Film ist ja auch nicht für mich persönlich gedacht, sondern eher, um ihn weiterzugeben und zu zeigen: Ich war da.» Die englische Punk-Band Savages bittet ihre Fans aus genau diesem Grund, die Handys beim Konzert nicht zu benutzen: «Wir glauben, dass das Filmen und Fotografieren während des Auftritts [...] uns alle davon abhält, vollständig einzutauchen», schreiben sie in Englisch auf ihrer Homepage.
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Doch nicht nur bei Pop- oder Rockkonzerten wird mitgefilmt, statt mitgehört: Der Pianist Krystian Zimerman unterbrach kürzlich ein Klassikkonzert in der Essener Philharmonie, weil ein Zuhörer ihn mit einem Smartphone aufgenommen hatte. «Würden Sie das bitte lassen», forderte der Pianist den Mann auf und verließ kurz darauf sichtlich verärgert und mitten im Stück die Bühne. Er habe schon viele Plattenprojekte und Kontakte verloren, weil man ihm sagte: «Entschuldigung, das ist schon auf YouTube», sagte er nach seiner Rückkehr wenige Minuten später. "Die Vernichtung der Musik ist enorm durch YouTube."
Handys inzwischen auch beim Klassik-Open-Air
Auch bei der Premiere der Bregenzer Festspiele am Bodensee - ein klassisches Event, das gerne auch älteres Publikum anzieht - konnte man das Phänomen im vergangenen Sommer beobachten: Kaum hörte man die ersten Töne der Oper «André Chénier» von Umberto Giordano, gingen ein paar Handydisplays nach oben. Pressesprecher Axel Renner sieht darin aber noch kein Problem: «Wir erleben ein sehr diszipliniertes Publikum, nur in ganz seltenen Fällen wird fotografiert», sagt er. «Da können wir ein bisschen stolz sein, weil es nicht den großen Zeigefinger braucht.» (dpa)