Gelsenkirchen. . 100 Jahre wird Igor Strawinskys berühmtes „Sacre du Printemps“ 2013. Doch die Ballett-Compagnie des Musiktheaters im Revier feiert den Russen mit zwei anderen Werken: „Die Geschichte vom Soldaten“ und „Orpheus“. Der Doppel-Abend wurde bei der Premiere am Sonntag heftig bejubelt.
Gesamtkunstwerk mit Januskopf am Musiktheater im Revier: Was diesem Ballett-Doppelabend im Zeichen Igor Strawinskys seinen Reichtum schenkt, ist – fehlende Einheit. Nein, das gilt nicht nur der Musik, auch wenn sie die Schere von Klängen und Gefühlen erst ermöglicht. Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ entstand 1917, sein „Orpheus“ mehr als 30 Jahre später.
Wie der russische Avantgardist von vorsätzlichen Spiel mit der Form zu sensitiver Innerlichkeit fand, lässt die Neue Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann hören. Auch kleine Unsauberkeiten können das Staunen nicht stoppen: Der Weg vom „Soldaten“ zu „Orpheus“ spiegelt spannend ein Komponistenschaffen, in dem die Seele erst zu ihrem musikalischen Recht kommt, wenn Ideen (und Ideologien) schweigen.
Theatermuseum nicht ausgeschlossen
So gesehen hat der vom Publikum stürmisch gefeierte Abend zwar ein Doppelgesicht, aber keinen doppelten Boden. Keiner der Choreographen höhlt die Stücke gegen ihren Geist aus. Ja, es ist nachgerade ein Gang ins Theatermuseum, den wir an Jiri Bubeniceks Seite antreten. Noch vor Brecht und Piscator huldigen Strawinsky und Charles Ramuz einem Theater, das nackt und spröde die Illusion per Deklamation austreibt.
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Das steht selbst in der respektablen Bubenicek-Choreographie in der Gefahr, zum stationenhaften Buchstabieren zu geraten. Doch Sebastian Schwabs charmanter Erzähler setzt gegen theatralische Askese (Bühne: Bubeniceks Bruder Otto) auf Fleisch und Blut. Erst recht schenken die Tänzer dem schlichten Märchen, das einen Soldaten seine Geige gegen die Hölle eines geldbringenden Buches tauschen lässt, Sinnlichkeit.
Junior Demitre in der Titelrolle ist ein anrührender Naturbursche, aber (wie in jeder Faust-Aufführung) stiehlt der Teufel ihm die Schau. Den tanzt Joseph Bunn, gesegnet mit jener zirzensischen wie gefährlichen Eleganz, die allen großen Verführern eignet. Das reißt so mit, da nimmt niemand Anstoß, dass Bubeniceks tanzästhetisches Repertoire Avantgarde von gestern ist.
Mythos mit großen Gefühlen
Vom Kasperltheater mit antikapitalistischer Botschaft ins Totenreich, das Ines Aldas Bühne mit bestechender Raffinesse zum tristen, nach Licht hungernden Raum erklärt. „Orpheus“ ist mit verletzlicher Noblesse Sergio Torrado. Gelsenkirchens Ballettchefin selbst tanzt Eurydike, die Frau, für die der Musen-Sänger den Weg ins Totenreich nicht scheut. Cathy Marstons Choreographie findet in einem Doppelgänger-Konzept (Kusha Alexi ist Eurydikes Körper, Breiner ihre) Seele) zum Kern der Tragödie. Sehnsucht und Vergehen, Begehren und Trauern bilden zarte Schnittmengen: Große Gefühle zeigt der Mythos hier ohne Kraftmeierei. Eine strenge Tanzminiatur, zum Atemanhalten schön.