Essen. Eine neue Biografie über den Kunst-Schamanen Joseph Beuys gibt Auskunft über Dichtung und Wahrheit seiner Selbstauskünfte. Aber auch über völkisches Denken und regelmäßige Kameradschaftstreffen. Hier wird ein Heiliger der Kunst auf den Boden der Tatsachen gestellt.

Ausgerechnet Beuys. Ausgerechnet er, der am Ende seines Lebens als Kunstheiliger verehrt wurde, hat über sich selbst gelogen, bis er die Balken seines Lebens zu einer Kathedrale aus Legenden zurechtgebogen hatte. Ausgerechnet er, der Mitbegründer der Grünen, verachtete Pazifismus und besuchte bis in die 70er-Jahre Kameradschaftstreffen seiner alten Reichswehr-Einheit. Ausgerechnet er, der sich für direkte Demokratie einsetzte, war zeitlebens umgeben, mal finanziert, mal geschützt von (einfluss-)reichen Männern mit NS- oder gar SS-Vergangenheit. Und ausgerechnet für Beuys, der sich 1941 zwölf Jahre als Berufssoldat verpflichtet hatte, war die Kunst, der Künstlerberuf weniger eine Berufung als vielmehr ein Notausgang aus der Rat- und Hilflosigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Wie ein Enthüllungsroman

Diese und andere Widersprüche im Leben des berühmteste deutschen Künstlers im 20. Jahrhundert verdichtet die neue, nächste Woche erscheinende Ziegelstein-Biografie von Hans Peter Riegel: ein schillerndes Lebensbild, das wie ein Enthüllungsroman daherkommt. Riegel, ein in der Schweiz lebender Werbe- und Kunstfachmann, hat vor drei Jahren bereits eine kenntnisreiche wie kritische Biografie seines Akademie-Lehrers Jörg Immendorff veröffentlicht, seinerseits einer der bekanntesten Schüler von Beuys.

Riegel hat Fakten recherchiert wie noch kein Biograf vor ihm – und kombiniert sie mit bekannten Erkenntnissen. Die „Tatarenlegende“, der zufolge der abgeschossene Kriegspilot Beuys auf der Krim von Eingeborenen dort zum Schutz vor Schnee und Kälte in Fett und Filz eingewickelt worden sei, damit er überlebe, ist längst als Übertreibung entlarvt. Riegel aber durchlöchert sie. Beuys war kein Pilot, die Ausbildung war ihm schon wegen seiner Rot-Grün-Blindheit verwehrt (weshalb er später zur Sicherheit riesige US-Karossen und einen Bentley fuhr). Als Beuys am 16. März 1944 auf der Krim abstürzte, lag kein Schnee, der fiel zwei Wochen später. Das Krankenbuch des Feldlazaretts verzeichnet am 17. März bei Bordfunker Beuys eine Gehirnerschütterung. Absturzursache scheint kein Abschuss gewesen zu sein, sondern eine Bruchlandung, weil die Besatzung zu wenig Erfahrung im Blindflug hatte und das Wetter die Sicht verwehrte.

Schon früh schütteres Haar

Ebenfalls ein Mythos: Wegen der Kopfverletzungen („Schädelbasisbruch“) habe Beuys eine Metallplatte im Schädel getragen – und deshalb auch sein Markenzeichen, den Hut. Tatsache ist: Beuys hatte schon früh schütteres Haar, fegte es zunächst auf dem Kopf zusammen und kaschierte die kahlen Stellen später durch das Tragen eines Stetsons. Und seine Material-Vorlieben dürften darauf zurückgehen, dass in seiner Heimatstadt Kleve zeitweise 75 Prozent der deutschen Magarine-Produktion konzentriert waren – und die zahllosen Schuhfabriken dort riesige Filzrollen gelagert hatten. Aber Beuys begriff auch seine Biografie so sehr als Kunst-Werk, dass er voller Verachtung für die bloßen Tatsachen mit vielen Fiktionen auskleidete.

Professor trotz erfundenem Abitur

Das eigentliche Verdienst der gut geschriebenen, aber nachlässig redigierten Biografie Riegels liegt allerdings nicht in ihren zahllosen Details, etwa dass Beuys als Schulkind wegen seiner robusten Umgangsformen „Panzer“ genannt wurde und leidenschaftlicher Boxer war, dass er sein Abitur erfunden hatte und trotzdem Akademie-Professor wurde oder dass es sich bei seiner Depression in den 50er-Jahren wahrscheinlich um eine „Posttraumatische Belastungsstörung“ handelte. Vielmehr schildert Riegel minutiös, wie geschickt sich der Außenseiter Beuys aus der niederrheinischen Provinz, den sein Düsseldorfer Akademie-Lehrer Ewald Mataré für begabt, aber verrückt hielt, mit einer regelrechten Marketing-Strategie in der Kunstszene der frühen 60er-Jahre etablierte.

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Sich an die Fersen der entstehenden Fluxus-Bewegung heftete, Galeristen gegeneinander ausspielte, wie er seine steile Karriere im Kunstbetrieb stets aufs Neue zu befeuern wusste und die seinerzeit verpönten Lehren des von ihm glühend verehrten Anthroposophen und Mystagogen Rudolf Steiner verklausuliert als neue Kunstideologie predigte. Wie viel völkisches Denken bis zuletzt aus den Reden von Beuys sprach, befördert von einer Mischung aus Nazi-Ideologie, wie er sie in der HJ aufgesogen hatte, und unverdauten Rassismen aus der Steinerschen Lehre.

Die Kunst ablösen von dem Urheber

Doch nur wer Kunst für eine Art Religion hält, wird glauben, der Künstler müsse ein Priester sein, ein Heiliger gar. Dabei sagt das Verhalten, der Charakter, die Integrität eines Künstlers nicht das Geringste über den Kunstcharakter seiner Werke. Hans Peter Riegels so kundiges wie kritisches Lebensbild des Joseph Beuys zeigt nur, wie sehr man die Bewertung seiner Kunst ablösen muss von ihrem Urheber und seinen oft ins esoterisch-mystische abgleitenden Selbsterklärungen. Was dann noch bleibt, ist allemal und immer wieder der Rede wert.

Hans Peter Riegel: Beuys. Aufbau Verlag, 596 S., 28 €.