Dortmund. . Das Publikum feiert in Dortmund die Oper „Anna Nicole“. Komponist Mark-Anthony Turnage macht das Leben des Models Anna Nicole Smith zur Oper. Das Ergebnis bewegt: Es ist eine traurige Oper, eine grausame dazu. Anna Nicole ist im Aufstieg wie im Fall Selbstsucht pur. Der amerikanische Traum eben.

Die größten Brüste, die für Geld zu operieren sind, machen aus einer Schlampe eine Männerphantasie. Doch den amerikanischen Traum muss sie sich schön trinken. Mit Beifall im Stehen feiert das Dortmunder Publikum die Aufführung der Oper „Anna Nicole“. Die hat der britische Komponist Mark-Anthony Turnage auf das Leben des amerikanischen Models Anna Nicole Smith geschrieben, die im Alter von 39 Jahren an einer Überdosis Tabletten starb. Dortmund zeigt nach London die zweite Aufführung des Stücks überhaupt. Die dritte geht im September in New York über die Bühne. Dann dirigiert der Bochumer GMD Steven Sloane.

Anna Nicole kommt aus einem Milieu, das die Amerikaner mit „weißer Dreck“ bezeichnen. Sie flieht in die Großstadt und lernt, dass es für brave Mädchen nur Mindestlohn-Jobs gibt. Sie versucht sich als Stripperin, ist aber wegen ihrer knapp bemessenen Oberweite nicht erfolgreich. Also bittet sie den Schönheitschirurgen: „Blas mich auf.“ Der Preis: lebenslange Rückenschmerzen. Zum Ausgleich angelt sie sich den reichsten verfügbaren Mann, selbst wenn der ein Greis ist. Alles ist käuflich. Das Glück besteht aus gefüllten Einkaufstaschen und Juwelen im Austausch für orale Dienste.

Ununterbrochen in Aktion

Der Dortmunder Intendant Jens-Daniel Herzog stellt als Regisseur dieses Schicksal in das neonkalte Ambiente einer Leichenhalle mit extra vielen Türen. Es ist auch keine Geschichte, der man warmherzig begegnet. Denn für große Gefühle und Mitleid hat die Musik von Mark-Anthony Turnage keine Zeit. Das groß besetzte Orchester inklusive Band psychologisiert nicht, sondern illustriert – und zwar flott, satirisch und anspielungsreich mit allen Stilmitteln, die der Musik heute zur Verfügung stehen. Die zwei Nettostunden vergehen wie im Flug, weil ununterbrochen Aktion herrscht. „Anna Nicole“ ist die gesprächigste Oper der Musikgeschichte. Es gibt nur einen reflektierenden Moment, wenn Anna, im Zentrum der Handlung, im einzigen ariosen Gebilde ihren Traum besingt.

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Dieser Distanziertheit ist die Londoner Uraufführung 2011 mit einem Feuerwerk an schrillem Supertrasch begegnet. Herzog nimmt sich in Dortmund stattdessen Brechts Dreigroschen-Oper zum Vorbild. Er lässt Chor und Solisten in einfallsreicher Personenführung wie in einer Revue auftreten; um den Orchestergraben wurde dafür eigens eine Rampe gebaut. Den Brecht’schen erhobenen Zeigefinger liest man mit.

Die amerikanische Sopranistin Emily Newton kommt aus Texas, genau wie Anna Nicole Smith. Sie hat jene süße Mädchenstimme, wegen der sich Milliardär J. Howard Marshall II in das Original verguckt. Emily Newton ist als Anna Nicole ordinär und gierig und naiv und am Ende todtraurig. Und sie hat das fantastische Stehvermögen, diese riesige Rolle mit der Unmenge von Text und den ständig wechselnden Gesangsstilen scheinbar mühelos zu stemmen und dabei noch ausgesprochen sexy zu wirken.

Beklemmend kaputte Typen

Ks. Hannes Brock will als greiser Milliardär dem Tod von der Schippe hüpfen und tut das mit einer Mischung aus Bosheit und Altmännergeilheit. Allein Katharina Peetz weckt als Annas strenge Mutter Einfühlung statt Distanz – und auch das ist vermutlich Absicht. Der großartige Dortmunder Opernchor bildet eine Versammlung beklemmend kaputter Typen. Wie in der antiken Tragödie kommentiert er das Drama und treibt es doch voran.

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Anna Nicoles Fall vollzieht sich in aller Öffentlichkeit. Sie lässt die Geburt ihres zweiten Kindes live übertragen, verkauft intimste und entwürdigendste Bilder an die Kameras, die auf ihre Abstürze ebenso hungrig sind wie vordem auf ihre Erfolge. Alles ist käuflich im amerikanischen Traum. Wer genug Geld hat, bringt das Glück zum Funktionieren. Es kommt aus der Flasche, aus der Pillenschachtel, aus der Koksdose. Der eigene Körper wird zur Ware, bis er im Plastiksack des Leichenhauses entsorgt werden kann.

„Anna Nicole“ ist die letzte Opernpremiere, die GMD Jac van Steen in Dortmund dirigiert. Der verehrte holländische Maestro hält den riesigen Apparat mit großer Meisterschaft zusammen und erzeugt vom ersten Takt an eine geradezu vibrierende Spannung.

Es ist eine traurige Oper, eine grausame dazu. Denn Verdis „Traviata“ zum Beispiel, die Jens-Daniel Herzog gern als Vergleich bemüht, hat ja neben dem gemeinsamen Motiv des zum Handelsgut gewordenen Frauenfleischs noch den großen überhöhenden Moment der Selbstopferung. Anna Nicole hingegen ist im Aufstieg wie im Fall Selbstsucht pur. Der amerikanische Traum eben.

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