Essen. Er sucht sie - aber auch ihn: Der neue, 13. Roman des großen alten US-Literaten John Irving, vereint „In einer Person“ ein vielfältiges Begehren. Ein Buch um homoerotische Schübe und das Misstrauen der Mehrheit, wendungsreich und lebensprall wie immer. Aber: Am Ende kippt der Hieb gegen die evangelikale Homophobie in den USA ins Slapstickhafte.

Das Ringen und die Bären, die Wildjagd und Wien, der vaterlose Junge, die Verführung durch eine ältere Frau: Der neue, nunmehr 13. Roman von John Irving hat alles, was ein echter Irving braucht. Und doch ist er derart anders, dass sein letzter Satz auch auf den Roman selbst angewendet werden kann: „Bitte stecke mich nicht in eine Schublade. Ordne mich nirgends ein, bevor du mich nicht kennst.“

Keine Sorge: Wir verraten nicht zu viel mit diesem Satz; Irving-Afficionados lesen ihn sowieso zuerst, weil sie wissen, dass auch der Autor selbst seine Arbeit vom Ende her angeht. Und um zu merken, dass im kleinen Örtchen First Sister im verträumten Vermont etwas nicht so ist, wie es scheint, hätte wir diesen Fingerzeig ohnehin nicht gebraucht. William Abbott, Billy gerufen, geht hier zur Favorite River Acadamy, einer reinen Jungsschule, und spielt Theater bei den „First Sister Players“. Als er uns seine Geschichte erzählt, ist er längst erfolgreicher Schriftsteller und „fast siebzig“, also etwa in Irvings Alter, wie Irving wächst Billy vaterlos auf und wird in jungen Jahren von einer älteren Frau verführt: von Miss Frost, der Bibliothekarin des Ortes. „Was wir begehren, prägt uns“, heißt es: „Ein flüchtiger Moment verstohlenen Begehrens, und ich wollte Schriftsteller werden und Sex mit Miss Frost haben – nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.“

Grandpa Harry fühlt sich in Frauenrollen viel lebhafter

Es kommt, wie es kommen muss, und zwar heftig. Wie sehr wir unser Bild einer amerikanischen Kleinstadt in den 50er-Jahren revidieren müssen, deutet sich zunächst in der Figur von Grandpa Harry an. Bei den First Sister Players übernimmt er stets Frauenrollen und wirkt darin so viel „präsenter und lebhafter“ als im wirklichen Leben. Dann spricht Billy vom eigenen „homoerotischen Schub“ bei den Ringerkämpfen, er schwärmt für einen Draufgänger namens Kittredge – gemeinsam mit Jugendfreundin Elaine, deren BHs er ausleiht und nachts trägt. Dass „Miss Frost“ früher als bärenstarker Al Frost das Ringerteam der Schule verstärkte, erstaunt uns da nur noch milde.

Überhaupt, die Bären: So nennt Billy später jene Schwule, die in den 80ern in Mode kommen, diese „großen, ungepflegten behaarten Typen“. Da lebt er schon in Wien, Liebhaber eines älteren Komponisten, Ex-Liebhaber einer jungen Sopranistin. Billy ist bisexuell: ein Dazwischen-Dasein, von allen Seiten misstrauisch beäugt.

Auseinandersetzung mit sexuellen Identitäten gerät zum Slapstick

Über 300 Seiten gelingt es John Irving, die Ambivalenzen seines Helden nachzuzeichnen. Dann aber scheint es, als hätte er Angst vor dem eigenen Mut bekommen. Die Auseinandersetzung mit sexuellen Identitäten gerät zusehends zu reinem Slapstick. Wohingegen das Rollenspiel in den Stücken der First Sister Player geradezu schulbuchhaft ausgeschlachtet wird für Sätze über die vielen Personen, die jeder Mensch in sich trägt – langweilig.

Auch als die tödliche Seuche Aids in Billys Leben bricht, kommt er seinem Helden nicht mehr näher. Akribisch offenbar hat Irving die Krankheitsverläufe recherchiert, er bombardiert seine Leser mit medizinischen Details. Dennoch scheint die Trauer, die Billy um den Tod zahlreicher Freunde empfindet, nur eine behauptete. Billy bleibt verschont, weil ein Arzt ihm früh geraten hatten, Kondome zu benutzen – aus lauter Ekel vor Schwulen, welch Ironie.

In Interviews hat John Irving erzählt, dass einer seiner Söhne sich kürzlich als schwul geoutet habe. Dennoch wirkt es so, als wolle der Autor auf gut 700 Seiten bei aller Freizügigkeit das Thema der Andersartigkeit aber doch emotional von sich fernhalten. Dabei dürfen wir uns durchaus über eine gut gebaute, wendungsreiche, dialogfrische Geschichte freuen, herrliche Handwerkskunst. Was hätte dieser Roman werden können, wäre er nur ein wenig mutiger gewesen.

John Irving: In einer Person. Diogenes, 736 Seiten, 24,90 Euro