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John Irvings Roman „Letzte Nacht in Twisted River“ ist ein Meisterwerk praller Erzählkunst - vielschichtig und herzzerreißend. Durch die epische Fülle der Handlung erinnert er an englische Autoren des 19. Jahrhunderts wie Charles Dickens.
In einem guten Buch von John Irving, und alle Bücher von John Irving sind gut!, kommen vor: Ein Schriftsteller als Hauptfigur. Amputationen diverser Körperteile, meist schmerzhaft. Sexuelle Einführungskurse, farbig illustriert und vermittelt durch ältere Frauen. Privatschulen in Neu-England sowie diverse Ringer und Bären. Wer nun denkt, aus solch kantigen Klischees kann keine Literatur entstehen, liegt falsch. Natürlich ist es möglich. Auch der zwölfte Roman des 67-jährigen Amerikaners ist ein Meisterwerk praller Erzählkunst, vielschichtig, herzzerreißend, durch die epische Fülle der Handlung an englische Autoren des 19. Jahrhunderts wie Charles Dickens oder Thomas Hardy erinnernd.
Reise vom letzten Satz zurück zum ersten Satz
Wie seine Bücher entstehen, enthüllt Irving bei jeder Gelegenheit. Er beginne einen Roman erst, wenn er den letzten Satz zu Papier gebracht habe, heißt es da. Die Reise vom letzten Satz zurück zum ersten Satz dauert lange, manchmal fast zwei Jahre. Dennoch wird der letzte Satz in diesem Prozess nie mehr verändert, bleibt in Stein gemeißelt bis aufs Komma. Im neuen Buch hat Irving nicht einmal der Versuchung widerstehen können, die allerletzten Worte zum Titel zu machen. Auch deshalb erinnert die „Letzte Nacht in Twisted River“ ein wenig an die Geschichten, die man als Kind mit roten Backen verschlang, die einen Spannungsbogen besitzen, der mächtig und weit ist und dennoch nie zerfällt.
Natürlich gibt es Lehren in Irvings Büchern. Etwa: Das Leben ist voller Unfälle. Genieße deshalb die Zeit mit denen, die du liebst. An Unfällen mangelt es denn auch nicht in Twisted River, einem Holzfäller-Camp im New Hampshire der Fünfziger. Gleich im ersten Absatz stirbt Angel Pope, der junge Kanadier, der beim Flößen den Halt verliert und ertrinkt, während sich die Baumstämme „wie ein Teppich“ über ihm schließen.
Der Koch Dominic Baciagalupo, der mit seinem zwölfjährigen Sohn in Twisted River lebt, hat zu diesem Zeitpunkt bereits seine Frau verloren, ebenfalls an den wilden Fluss, und kurz darauf tötet der Junge die Geliebte seines Vaters. Mit einer Bratpfanne, weil er sie mit einem Bären verwechselt, was ebenso tragisch wie komisch ist. Es folgen eine Flucht, die sich über mehr als 700 Seiten und ein halbes Jahrhundert erstreckt, die Anschläge vom 11. September inklusive – sowie Menschen, Menschen, Menschen, die auch abseits des wilden Flusses von Baumstamm zu Baumstamm springen, oft ausrutschen, sich verzweifelt festklammern, sich zu retten versuchen, und deren Geschichte wir auch deshalb intensiv verfolgen, weil wir nicht nur über ihr Innenleben, sondern auch ihren Alltag viel erfahren.
Köche und Holzfäller
Seine Recherche nimmt John Irving nämlich ernst. Am Ende wissen wir alles über das Fällen eines Baums und die Zubereitung einer Lasagne. Am Ende wissen wir auch wie immer viel über Irving selbst. Danny Baciagalupo, der Sohn des Kochs von Twisted River, wurde schließlich im selben Jahr wie Irving geboren, besucht sogar den „Iowa Writer’s Workshop“, wie Irving, hat dort den bekannten Autor Kurt Vonnegut als Lehrer, wie Irving – und dennoch beteuert John Irving, dass Danny Baciagalupo lediglich die biographischen Daten mit ihm teilt: „Sein Leben hat nichts mit dem zu tun, was mir im Leben zugestoßen ist, aber es hat alles, wovor ich mich fürchte!“ Und weil Irving so ein großer Erzähler ist, tauchen wir gern mit ihm tief in seine Ängste hinab und wundern uns nicht, dass Holzfäller und Köche offenbar ihre Tage mit furchtbaren Gemetzeln und absurden Peinlichkeiten füllen.
Im vorletzten Buch, das „Bis ich Dich finde“ heißt und natürlich ebenfalls von Verlust und Gewalt, schüchternen Männern und starken Frauen bevölkert wird, stand übrigens der Sohn eines Organisten und einer Tätowiererin im Mittelpunkt, der als Hollywood-Star einen Oscar bekommt. Völlig unglaubwürdig, sagen Sie? Völlig normal, sagt John Irving. So ist das Leben.