Essen. Kein Sommer ohne Hit: Brachten die Deutschen „Azzurro“ noch aus Italien mit, verbreiten sich „Bailando“ & Co. über das Internet. Was auch gut funktioniert: ein prominenter Fußballer, der sich durch das dazugehörige Musikvideo tanzt.
Presidente Olegârio ist ein brasilianisches Kaff von knapp 20 000 Einwohnern. Dort meißelt man an einer lebensgroßen Statue des neuerdings berühmtesten Bürgers der Stadt: Gusttavo Lima bekommt sein Denkmal, und er bekommt es sehr, sehr früh: mit 23 Jahren.
Limas erstes Album enthält den Song „Balada“, dessen Refrain „tsch, tschere, tsche, tsche“ auch nach Caipirinha-Konsum noch einprägsam ist. Der Erfolg wird durch den Einsatz kräftiger Bässe und kopulationsrhythmisch bewegter Hüften begünstigt. Trotzdem hat das „Balada“-Liedchen eine gewisse Raffinesse und ordentlich Dampf. Mit diesen Qualitäten ist „Balada“ einer der Sommerhits, Saison 2012, auf Platz Eins unter anderem in Belgien, Holland und der Schweiz. Das reicht für ein Denkmal.
Eingängig, sexy, exotisch
Ob auch für das 20-jährige Fußball-Supertalent in Diensten des brasilianischen FC Santos, Neymar da Silva Santos Junior, bereits an einer Statue geschliffen wird? Denn der quirlige Neymar gilt mit seinen Tänzchen auf und neben dem Platz als wichtigster Sommerhit-Verbreiter der Welt. In Limas Video hat Neymar einen Tanzauftritt.
Auch Michael Teló verdankt dem Jungkicker seine Karriere. Teló, 31, war schon länger eher unauffällig im Latino-Tanz-Pop-Segment zugange. Dann tanzte Neymar in der Spielerkabine zu seinem Song „Ai se eu to pego!“, lud den Clip auf Youtube hoch und löste eine Lawine aus. Auch Cristiano Ronaldo griff den Teló-Tanz auf und vollführte ihn nach jedem seiner zahlreich erzielten Tore für Real Madrid. Als schließlich Mehr-oder-weniger-Ex-Profi Ailton im RTL-Dschungelcamp zu dem Song abtanzte, war „Ai se eu to pego!“ auch bei uns nicht mehr von Platz Eins abzuhalten. „Nossa! Nossa!“. Der vermutlich größte Sommerhit des Jahres explodierte schon im Januar und wurde von Fußballern und Internet in Windeseile globalisiert.
Früher ging es gemächlicher zu, da mussten die Deutschen erst in Urlaub fahren, um dann mit einem Hit heimzukehren. Dessen Grundprinzip: Eingängig muss er sein, ein bisschen sexy, gern überraschend oder exotisch. Lateinamerikanische Tänze wie Salsa, Samba oder Merengue sind eine geeignete Grundlage. Der Text muss von glücklichen Gefühlen handeln oder auf ein Schlachtwort reduzierbar sein („Nossa“, „Tschere tsche tsche“). Der Song muss genug Tempo für die Tanzfläche haben, darf aber nicht zu krass sein fürs Formatradio, denn dort brennt er sich ein.
Den Sommer verbanden die Deutschen in den Fünfziger- und Sechziger Jahren mit ihrem Sehnsuchtsland Italien, und so war der erste Sommerhit wohl: „Volare“. Domenico Modugno siegte mit dem Lied 1958 beim San-Remo-Festival, wurde Dritter beim Grand Prix d’Eurovision, ein Jahr später gab es eine deutsche Erfolgsversion von Peter Alexander, zwei Grammys und eine Nummer Eins in den USA. Zehn Jahre später gelang Adriano Celentano mit „Azzurro“ ein ähnlicher Erfolg.
Nachdem die Siebziger auch Sommerhits aus dem englischsprachigen Raum hervorbrachten („In the Summertime“ von Mungo Jerry 1970), war in den späten Achtzigern und den Neunzigern Spanien die Wiege dieser Kunstform. Auch dort galt: Man kam, trank, tanzte, und verbreitete den Hit. „Macarena“ des spanischen Musikduos Los Del Rio verband 1996 spanische Gitarren mit Discomusik.
Von „Lambada“ bis „Hamma!“
In ähnliche Kerben schlugen 1998 die Holländerin und Wahl-Mallorquinerin Loona („Bailando“) und 2002 die Mädchen von Los Ketchup mit dem Ketchup Song, während der „Lambada“ (1989) von den Franzosen Kaoma stärker in Richtung Anzüglichkeit ging und in Brasilien geklaut war.
Klassisches Beispiel des einen Sommer lang hell flackernden One-Hit-Wonders war der Münchener David Lubega, der als Lou Bega 1999 seinen „Mambo No. 5“ tanzte und bis zum heutigen Tag mit der Nummer durch die Clubhotels tingelt.
Seit einigen Jahren kommen die Sommerhits von überall her, dank Youtube und Konsorten geht die Verbreitung schlagartig, dank Billigflieger kommen dann die Knaller gern auch mal aus Moldawien („Dragostea din tei“ von O-Zone, 2004), aus Rumänien („Mr. Saxobeat“, Alexandra Stan, 2011), aus Australien („We no speak Americano“ von Yolanda Be Cool, 2010) oder gleich aus Berlin („Hamma!“ von Culcha Candela, 2007). Härtester diesjähriger Konkurrent um die inoffizielle Sommerhitkrone sind die Sizilianer Romano & Sapienza, die sich jetzt Tacabro nennen und in ihrem „Tacata“-Video vor heftigstem Hinternwackeln nicht halt machen.
Wer selbst am Baggersee bei kühlem Bier ein gewisses Niveau akustisch nicht unterschreiten möchte, dem sei der Sommerhit der Herzen empfohlen: „I follow Rivers (The Magician Remix)“ von der Schwedin Lykke Li, ist ein entzückender, federleichter, magnetisierender und trotzdem nicht aufdringlicher Popsong, den man nicht oft genug hören kann. Ob sie in Lykkes Heimatort Ystad bereits über eine Statue nachdenken?