Kassel. . Kassel ist ab diesem Samstag wieder Zentrum der Gegenwartskunst. Die 13. Weltkunstschau fungiert als Ausstellungsraum, Wissenschaftszentrum und Sanatorium in einem. Selbst an Hunde ist gedacht.

Die Welt ist nicht genug für diese Documenta. Eigentlich wollte Ausstellungschefin Carolyn Christov-Bakargiev sogar Kunst vom anderen Stern zeigen. Doch El Chaco, der tonnenschwere Meteorit, den Guillero Faivovich und Nicolas Goldberg vors Fridericianum hieven wollten, musste in Argentinien bleiben. Ein Astronom hatte Probleme wegen der fehlenden Magnetstrahlung prophezeit. So kann man auf der heute startenden Documenta 13 nicht nur über Kunst reden, sondern auch über den Zustand der Erdatmosphäre, die Wassergewinnung in der Atacama-Wüste oder das von Christov-Bakargiev angeregte Wahlrecht für Hunde und Erdbeeren.

Die 54-jährige Italo-Amerikanerin hat sich im Vorfeld dieses weltbedeutenden Gegenwartskunstspektakels nicht nur Freunde gemacht. Ihre Kritik an Stefan Balkenhols Skulptur auf dem benachbarten Kirchturm sorgte ebenso für Stirnrunzeln wie ihr kuriosen Auskünfte zur Demontage des Kunstbegriffs. Doch nun spürt man, welch frischer Wind durchs Fridericianum weht. Ryan Gander pustet ihn durch die Eingangshalle. Eine Luftbewegung und sonst nichts als irritierende Leere gibt’s als Entree, bevor uns „the brain“, das Hirn, mit seinen vollgestopften, manchmal verworrenen Gedankengängen und Erinnerungsbezügen begrüßt. Sie reichen von Man Rays Foto-verziertem Metronom bis zu Eva Brauns Puderdose.

Documenta mit 150 Künstlern aus 55 Ländern

Ähnelt einem Kletterparadies, ist aber eigentlich ein großer Galgen. Die Installation „Scaffold“ von  Sam Durant.  Foto: dapd
Ähnelt einem Kletterparadies, ist aber eigentlich ein großer Galgen. Die Installation „Scaffold“ von Sam Durant. Foto: dapd

Vieles auf dieser Documenta wirkt in seiner Zusammenstellung assoziativ, intuitiv, manchmal fast zufällig. Es gibt keinen vorgegebenen Kurs, nur Diskurse. Es gibt nicht mal ein Konzept, nur Konzeptkunst. Das Lieblingswort der Documenta ist „minimal“. Und doch haben die 150 ausgewählten Künstler aus 55 Ländern ein reich bestücktes Panorama voller Welt- und Wissensinhalte zusammengestellt, wo Engagiertes auf Erhabenes trifft, Banales auf Brachiales, Heiteres auf Hintergründiges, Malerei auf Fotografie, Politisches auf Privates. So macht Mark Lombardi in seinen Schaubildern die Netzwerke von Politik und Wirtschaft kenntlich, der Quantenphysiker Anton Zeilinger erklärt die Sache mit dem Licht. Und Alexandre Tarakhovsky untersucht den Einfluss der Nahrung auf unsere Gene.

Das etwas kuriose Durcheinander aus Kunst-Ereignissen und ästhetischer Krisenintervention hat Charme und bricht aufs Schönste mit den Konventionen des Kunstbetriebs, den Hypes und Rekorden, dem Kreislauf der großen Namen und Preise. Endlich stehen alle da, sehen hin und scannen nicht nur - Name, Preis, Marktwert.

In Goldbarrenform gepresster Torf

Die Documenta 13 ist ein Konvent von Künstlern und Anthropologen, Genetikern und Saatgut-Aktivisten. Von Leuten, die uns in Goldbarrenform gepressten Torf als Investment-Produkt verkaufen wie Claire Pentecost oder den Porschemotor zum Fortschritts-Gebet anwerfen wie Thomas Bayrle.

So gut wie Gold? Claire Pentecost schlägt zu Barren gestapelten Torf als neue Währung vor: Foto: AFP
So gut wie Gold? Claire Pentecost schlägt zu Barren gestapelten Torf als neue Währung vor: Foto: AFP

Man braucht Zeit und Geduld, um die Bedeutung vieler Arbeiten zu erkennen, deren Sinn sich erst beim Nachlesen ergibt. Die Bilder Vann Naths beispielsweise, der die Zeit im Foltergefängnis überlebte, weil er Pol Pot zeichnen konnte.

Kriege, Katastrophen, Vertreibung, Widerstand, das sind Themen, die unter dem Motto „Zusammenbruch und Wiederaufbau“ oft behandelt werden, auch im Zusammenspiel mit der Documenta-Zweigstellen in Kabul, Kairo und Banff. Wenn Mariam Ghani in ihrer Videoarbeit die Geschichte des Fridericianums mit dem zerstörten Darul-Aman-Palast in Kabul verbindet. Wenn Rabi Mroué aus Handyfilmen von syrischen Demonstranten eine erschütternde Dokumentation des Sterbens in Daumenkinoformat macht. Oder Michael Rakowitz afghanische Studenten in Bamyan, wo Taliban die Buddha-Statuen gesprengt haben, Bücher in Stein hauen lässt, die im Zweiten Weltkrieg im Fridericianum verbrannten.

Aufbau ist auch das Stichwort in der Karlsaue. Die ist nicht nur die grüne Lunge für wundgesehene Augen und heißgelaufene Füße, sondern auch so etwas wie ein Erlebnispark mit Holzhäuschen und Hundeauslauf, dem von Sam Durants als Klettergerüst getarnten Riesengalgen und einem Sanatorium, in dem Pedro Reyes Hypnose, Paartherapie und Behandlungen für andere Zivilisationskrankheiten anbietet. Die Heilkraft der Kunst, in Kassel will man die nächsten 100 Tage dran glauben.