Leipzig.. Der Schriftsteller Martin Walser ist einer der wichtigsten und streitbarsten deutschen Autoren. Im Interview zu seinem 85. Geburtstag am 24. März erklärte er, warum er sich auf diesen Tag nicht freut – und warum ihm das Rechthaben heute nicht mehr so wichtig ist.
Der Blick unter den struppigen weißen Augenbrauen ist jung und hellwach – und doch wird Schriftsteller Martin Walser 85 Jahre alt. Auf der Leipziger Buchmesse stellte er dennoch gleich zwei Neuerscheinungen vor. Im Café seines Hotels sprach der streitbare Autor bei einem Glas Köstritzer Schwarzbier mit Britta Heidemann über das Reisen, den Glauben – und das Rechthabenwollen.
Sie waren, das steht im soeben erschienenen Buch „Meine Lebensreisen“ mit Tagebuchnotizen aus mehreren Jahrzehnten, 1981 zum ersten Mal hier zur Leipziger Buchmesse…
Martin Walser: Ja, und Leipzig ist die beste Stadt, vom Publikum her gesehen. Als herumreisender Schriftsteller hat man eine eigene Landkarte im Kopf. Es gibt keine andere Stadt, die so differenziert und feinnervig reagiert wie Leipzig. Und das auch schon zu DDR-Zeiten. 1981 habe ich im Gohliser Schlösschen gelesen, das war der Art nach so wie in München oder Bonn, damals, nur eben Leipzig-mäßig: noch wacher, noch heller, noch prompter, noch reaktionsschneller.
Wenn Sie an die vielen Reisen Ihres Lebens zurückdenken – was wäre diejenige, auf die sie keinesfalls verzichten wollten?
Walser: Auf keine! Es ist ein Riesenunterschied, Reisen zu machen und Reisen gemacht zu haben. Wie wichtig und wie kostbar das Reisen ist, sieht man erst nachher. Ich käme mir furchtbar arm vor, wenn ich nicht dauernd gereist wäre. Nehmen Sie nur Amerika. Wenn ich über Amerika angewiesen wäre, entschuldigen Sie, wenn ich das so sage, auf die Medien – was wüsste ich dann! Null und nichts! Wenn ich nicht zehn Mal in Amerika gewesen wäre, dann darf ich gar nicht hindenken, welche Borniertheiten sich da in mir ausgebreitet hätten, was für Vorurteile ich dann genährt hätte, verstehen Sie? Ich scheue natürlich solche Bilanzaussagen eher...
Verständlich.
Walser: … aber wenn ich daran denke, dann muss ich sagen, in meinem Leben war nichts so richtig und nichts so wichtig wie das Reisen. Aber natürlich ist es auch sehr traurig, irgendwo zu sein und wieder weg zu müssen. Ich hätte überall bleiben können. Und überall gab es Leute, mit denen man sein Leben hätte aushalten können. Das reißt schon die sogenannte Seele ein bisschen in Stücke, das Wegfahrenmüssen. Das muss man dann halt ertragen. Freunden in Edinburgh habe ich 1963 erklärt, ich hätte daheim am Bodensee eine „Chickenfarm“, um die ich mich kümmern müsse. Was für eine Metapher, eine Hühnerfarm!
Es ist in diesen Tagen ein weiteres Buch von Ihnen erschienen, es geht um die Idee der Rechtfertigung – vor sich, vor anderen. Sie schreiben darin, dass Sie neidisch sein könnten auf die Menschen, die sich gerechtfertigt fühlen. Wie meinen Sie das genau?
Walser: Ich habe dafür zwei Beispiele, Jean Ziegler und Joachim Gauck. Der eine ist ein wütender Oppositioneller, der andere ein edler Befürworter, aber beide strahlen aus, dass Sie sich, so wie sie sind, gerechtfertigt fühlen. Die sind überzeugt von dem, was sie sagen und wie sie es sagen. Diese zweifelsfreie Performance ist mir nicht gegeben, weder politisch noch philosophisch. Mir fällt ein, was mir fehlt – das ist mein Spruch. Und mir fehlt immer etwas, hat immer etwas gefehlt und wird wahrscheinlich bis zum Schluss immer etwas fehlen. In seinem Mangel, den man erlebt, fühlt man sich nicht gerechtfertigt.
Ist Ihr Schreiben dann die Suche nach dem, was fehlt?
Walser: Den Mangel aufschreiben zu können, in vielfältiger Form, macht mich froh. Das gar nicht sagen zu können, was fehlt, das wäre das Todesurteil. In „Muttersohn“, da kriegte ich aufs Papier – ich plane ja nicht, was ich schreiben soll, ich kriege es aufs Papier und kann es dann wegwerfen oder nicht – da kriegte ich also diese Figur, einen gewissen Percy. Und schon auf der zweiten oder dritten Seite hieß es dann: „Furcht und Ungeduld waren ihm fremd“. Das war eine Figur, die nicht wie sonst gesellschaftsbedingte Probleme hatte, Abhängigkeiten erlebte. Die war einfach hell und leicht… Dieser Percy, der redete gern zu Leuten. Und das hat ein Professor gemerkt und gesagt, sprich doch mal zu den und den Leuten. Und da hat Percy gesagt, das mach ich. Aber vorbereiten tue ich mich nicht. Vorbereitet zu reden zu unvorbereiteten Menschen fände ich gemein. Da war ich sehr froh, dass mir so eine Figur passiert ist. Es ist eine ungeheure Freude, so eine Figur auf dem Papier zu bedienen. Das hat schon etwas sehr Schönes.
Aber ist doch keine Rechtfertigung?
Walser: Sagen wir mal so: Alles, was im Roman „Muttersohn“ passiert, könnte man eine Tangente nennen an die Sphäre, an der Rechtfertigung daheim ist oder stattfindet. Das hat mehr mit Rechtfertigung zu tun als alles andere, was ich vorher geschrieben habe. Was ich vorher hatte, das war Rechthabenmüssen. In der Gesellschaft bist du diesem furchtbaren Wettbewerb ausgesetzt, dem Reizklima des Rechthabenmüssens. Wenn Sie das in Ihrem Beruf gelegentlich auch erleben…?
Ständig.
Walser: Es ist mir allmählich mal auf die Nerven gegangen, recht haben zu müssen. Dieser Zwang! Richtig wäre es, wenn jemand etwas sagt, dass er auch sagt, was das Gegenteil ist von dem, was er jetzt sagt und auch alles nennt, was dagegen spricht. Das erst wäre die volle Auskunft. Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr. Aus diesem für mich ermüdenden Rechthabenmüssen bin ich mit dem „Muttersohn“ ausgestiegen. Eine Erlösung, für die ich selber habe sorgen müssen.
Die Frage „Was glauben Sie?“ mögen Sie bekanntlich nicht, weil sie eine Festlegung bedeutet und Glaube für Sie etwas Dialektisches hat. Würden Sie sich als religiös bezeichnen?
Walser: Da könnte ich sagen: Das darf man nicht selber. Das müssen andere merken, ob man es sei. Man kann auch nicht selber sagen, dass man musikalisch sei. Und beim Musikalischsein kann man das noch überprüfen! Nietzsche hat geschrieben: Der Religiöse ist der größte Gegensatz zum Gläubigen. Der Gläubige ist sozusagen nicht religiös. Weil er sagen wollte, das Religiöse ist das Unbestimmte, das Schwierige. Im 19. Jahrhundert haben evangelische Kirchen den Glauben handhaft und habhaft gemacht, problemlos. Sie haben gezeigt, wie man Rechtfertigung erwirbt, sei es durch Arbeit, sei es durch Glauben. Andererseits aber müssen wir den Religionen dankbar sein, dass sie über 2000 Jahre das Thema Rechtfertigung am Leben erhalten haben. Es gibt eben noch die Sprache der großen Religiösen, und die bewundere ich. Der letzte davon ist Karl Barth, der Schweizer Theologe. Wer den natürlich gar nicht kennt, der kann nicht wissen, wie toll der ist! Vergleichbar mit Nietzsches Zarathustra, eine Hochtemperatur der deutschen Sprache, wie sonst überhaupt nicht vorkommt, weder in der Philosophie noch in der Literatur. Spätestens mit seinem „Römerbrief“ war ich geliefert.
Sie sind, schreiben Sie in Ihrem Buch, dreimal vom Zeitgeist scharf angegriffen worden: Sie waren gegen den Vietnamkrieg und wurden verdächtigt, Kommunist zu sein. Sie weigerten sich, in der deutschen Teilung eine Strafe für Auschwitz zu sehen und wurden zum Nationalisten erklärt, und nach der Rede in der Frankfurter Paulskirche zum Antisemiten. Würden Sie, rückblickend, irgendetwas anders machen?
Walser: Nein. Es klingt blöd, wenn ich das so sage, aber: Ich fühle mich nicht widerlegt. Ich bin ja ziemlich schlimm angegriffen worden. Wenn selbst ein Kollege, den zu schätzen ich viel Grund hatte, in der „Zeit“ geschrieben hat, so, wie ich über Deutschland rede, würde in den Nebenzimmern der Rechtsextremen geredet, dann geht es nicht schlimmer. Zum Teil hat mir ja auch die sogenannte Zeitgeschichte Recht gegeben. Über die Paulskirchen-Rede hat Peter Sloterdijk geschrieben: „Die Leute, die dem Redner stehend applaudierten, waren sich für wenige Minuten zehn Jahre voraus.“ Das liest man gern. Da muss ich doch jetzt nicht kommen und sagen, ich will das korrigieren. Ich habe immer gemeint, dass ich etwas sage, öffentlich, um zu erfahren, ob das anderen Leuten auch so geht. Ich wollte nie jemanden überzeugen. Aber es muss etwas in meiner Redensart drin sein, dass, ich übertreibe ein bisschen, das Gegner mobilisiert. Das ist komisch… Da habe ich irgendwas Rechthaberisches, gut. Dann ist es halt so.
Sie haben in jungen Jahren einmal notiert, „Was mit 50 nicht geschrieben ist, wird nicht mehr geschrieben werden können“. Wie denken Sie heute darüber?
Walser: Da sehen Sie mal, wie borniert und überheblich die Jugend ist! Gerade jetzt schreibe ich Texte, die vor 20, 30 Jahren nicht hätte schreiben können. Wie eben jenen über die Rechtfertigung, der ja letztlich eine Denkmaschine anwirft, die auf die eigene Überflüssigkeit abzielt. Manchmal denke ich, vielleicht wäre Schweigen tatsächlich die einzige angemessene Reaktion auf den Zustand der Welt heute. Wenn alle immer geschwiegen hätten, dann wären wir heute noch im Paradies! Das Paradies war eine Welt ohne Sprache. Und wo Sprache ist, da kann kein Paradies sein. Denn Sprache lebt von der Erfahrung, dass etwas fehlt.
Andererseits sagen Sie, Religion sei als Literatur zu lesen…
Walser: Ja, Religion ist eine Ausdrucksart wie die Literatur, Musik oder Malerei. Wer sich darüber erhaben fühlt, ahnt nicht, was er verliert. Heute wird ja Religion nicht mehr ohne Kirche gedacht. Aber religiöse Texte sind große Dichtung, ich denke da an die Psalmen, das Buch Hiob. Ich meine, Rechtfertigung ohne Religion wird zur Rechthaberei.
Gehen Sie noch in die Kirche?
Walser: Wenn es dort etwas Schönes gibt, schöne Musik, ein Konzert – dann ja.
Ihren 80. Geburtstag haben Sie als „Katastrophe“ bezeichnet, nun feiern Sie Ihren 85. Geburtstag…
Walser: Dann ist das wohl die fünffache Katastrophe! Nein, ich feiere nicht.
Also sagen wir, Sie werden den Tag begehen?
Walser: Es wird um 11 Uhr jemand kommen, der meint, mir gratulieren zu müssen, und später werde ich noch mehr Menschen sehen, die ich sonst nicht sehen würde. Ich werde diesen Tag in Heuchelei verbringen. Wie soll ich etwas feiern, das eine Katastrophe ist? Ich behaupte: Über das Alter hat noch nie jemand die Wahrheit gesagt.
Was wäre die Wahrheit?
Walser: Ach… (lacht, winkt ab): Lassen wir das!