Essen. . Manche Bücher liest man mit Genuss, und vergisst sie doch. Andere Romane bleiben im Gedächtnis, weil sie aufrütteln, berühren, weil sie ein neues Thema anpacken oder ein altes mit neuem Blick beleuchten. Solche Bücher stellen wir Ihnen hier vor: die zehn eindrucksvollsten Romane des Jahres 2011.
Eine Liste von zehn Besten, was könnte schwieriger sein, wenn man gerne zwanzig, dreißig Titel empfehlen würde? Aber gut. Hier sind sie: Kindheitserzählungen, Verlustgeschichten, Liebeshandlungen, Philosophie- und Kunst-Exkurse, Berlin-Romane.
1. Zsuzsa Bánk: Die hellen Tage. S Fischer, 544 Seiten, 21,95 Euro
Seri, Aja und Karl wachsen auf in der deutschen Provinz der 1960er Jahre, in ihren hellen Tagen teilen die drei Kinder dunkle Geheimnisse. Einst verschwand ein Kind, das in ein fremdes Auto stieg; einst bekam eine Frau vom Leben ein Baby geschenkt, das nicht das ihre war. Die deutsch-ungarische Autorin Zsuzsa Bánk erkundet erneut jenen Ort, der uns für immer prägt: die Kindheit. Mit luzider, poetischer Sprachmacht spinnt sie bereits auf den ersten Seiten ein Netz, das bis zum letzten Wort nur stärker wird. Ihre Sätze sind so atemlos wie ausgeruht, so mäandernd wie präzise, sind also eine Unmöglichkeit; hier steht sie schwarz auf weiß. Bánks großartiger Roman ist ein Fest: ein Fest des Widerstands gegen die Zumutungen des Lebens.
2. Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. Hanser, 188 Seiten, 17,90 Euro
August Geiger wurde am 4. Juli 1926 in der Vorarlberger Gemeinde Wolfurt geboren, als drittes von zehn Kindern. Er selbst weiß das allerdings nicht mehr. Sein Sohn, der österreichische Schriftsteller Arno Geiger, hat seine Lebensgeschichte festgehalten, weil der Vater sie ja verlor an die Krankheit namens Alzheimer: „Es ist, als würde ich dem Vater in Zeitlupe beim Verbluten zusehen“, schreibt Arno Geiger. Was bleibt von einem Menschen, wenn er seine Erinnerung verliert? Arno Geiger ringt, ohne bloßzustellen, einer persönlich gefärbten Tragik Erkenntnisse über das Leben selbst ab. Und er stellt fest, dass ja der Kern der Persönlichkeit – Witz, Charme, Würde – gesund bleibt. Er notiert die verschrobenen Sätze des Vaters, bestaunt das „magische Potential der Wörter“. „Ich bin nicht gut besattelt“, sagt der Vater etwa nach einem Spaziergang: „Meine Schuhe haben nicht die richtige Übersetzung.“ So viel kleines Glück findet sich im großen Unglück.
3. Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Rowohlt, 432 Seiten, 19,95 Euro
Der Roman des Immerdunklerwerdens reicht von den 50er Jahren bis ins Jahr 2001, er springt zwischen Deutschland, Russland, Mexiko und erzählt vom Abnehmen der Hoffnungen und Utopien, die man nach dem Ende des Nationalsozialismus im „anderen“ Deutschland so haben konnte. Dass der studierte Mathematiker und Theaterautor Ruge, der 1988 aus der DDR floh und eine Weile in Krefeld lebte, für sein Romandebüt den Deutschen Buchpreis erhielt, überraschte einerseits – und andererseits nicht, ist sein Werk doch in der Tat formvollendet, detailreich, genau und galgenhumorig.
4. Jeffrey Eugenides: Die Liebeshandlung. Rowohlt, 623 Seiten, 24,95 Euro
Liebe ist ja nur eine Idee. Die 22-jährige Literaturstudentin Madeleine Hanna liest Roland Barthes’ „Fragmente einer Sprache der Liebe“, das die Schmetterlinge im Bauch noch bis auf den letzten Flügel rupft. Und doch tanzen sie einfach weiter, die Schmetterlinge, lassen die bunten Flügel flattern: Madeleine verliebt sich in den manisch-depressiven Leonard und lässt doch den arg stillen Verehrer Mitchell nie so ganz von der Leine. Wie das endet, muss man einfach selbst lesen. Eugenides gelingt das Kunststück, in den zeitgeistigen Abgesang des Liebesromans wie auch der Ehe zunächst einzustimmen, nur um sich dann selbst zu widerlegen. Die Liebe ist nur eine Idee? Aber eine gute!
5. Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg. Suhrkamp, 220 Seiten, 21,90 Euro
Münster, 1982. Der Philosoph Hans Blumenberg sitzt nachts in seinem Arbeitszimmer, da sieht er ihn: „Groß, gelb, atmend – unzweifelhaft ein Löwe.“ Eine derart fantastische Ausgangslage kann leicht zur peinlichen Klamotte werden. Lewitscharoff aber gleitet leichtfüßig übers dünne Eis. Tatsächlich setzte sich Blumenberg in seinem Werk ja oft mit Mythen und Bildern auseinander, auch jenen des Löwen; tatsächlich war ihm die Trostbedürftigkeit des Menschen ein wichtiges Thema. Nun schickt die Autorin ihrem Philosophen den Löwen zum Trost, als Begleiter. Während ringsum recht viel gestorben wird, fühlt sich Blumenberg zunächst als „der exemplarische Asket, der seinen Löwen verdient hatte“ und schließlich selbst ein wenig „fellhaft“ und „löwennah“. Ein dichtes, sprachmächtiges Buch, das en passant Philosophisches und Religiöses streift. Hier ist der Leser König.
6. Michel Houellebecq: Karte und Gebiet. Dumont, 400 Seiten, 22,90 Euro
Über das Spätwerk des Künstlers Jed Martin ist viel gerätselt worden: Zeitrafferbilder, in denen die Natur technisches Gerät zu verschlingen scheint, in denen Fotoporträts verwittern, Städte untergehen im Grün. In einem Interview kurz vor seinem Tod offenbart Martin seine Inspiration: Eine Reise ins Ruhrgebiet zeigte ihm die Schönheit des Verfalls: „Die industriellen Kolosse... waren inzwischen verrostet oder halb eingestürzt, Pflanzen nahmen von den ehemaligen Werkstätten Besitz, überwucherten die Ruinen und verwandelten das Ganze nach und nach in einen undurchdringlichen Dschungel.“ Welch Symbolkraft. Welche Ehre: für das Revier. Doch nicht deshalb ist Houellebecqs Roman um den fiktiven Künstler Jed Martin, für den er in Frankreich den renommierten Prix Goncourt erhielt, einer der besten Romane des Jahres. Der einstige Skandalautor findet im neuen Werk zum ruhigen Tonfall tiefer Gelassenheit - und ein neues Thema. Er beschreibt die Kunstszene und zeigt, geradezu mitleidsvoll, wie die Mechanismen des Marktes hehre Ideen zerkrümeln. Fast scheint uns Houellebecq hier als Menschenfreund. Was ja ein Skandal für sich wäre.
7. Alex Capus: Léon und Louise. Hanser, 320 Seiten, 19,90 Euro
Die Liebe in Zeiten der Weltkriege, das ist naturgemäß Stoff für tragische, dramatische, tieftraurige Herzensromane. Alex Capus’ Helden Léon und Louise aber sind widerstandsfähig, eigensinnig. Im Frühling 1918 verlieben sie sich und werden im Bombenhagel vor dem Fischerdorf Le Tréport getrennt, beginnen ein Leben ohne einander, begegnen sich wieder. Trennen sich erneut, da Léon nun verheiratet ist und sehen sich in den folgenden „elf Jahren acht Monaten dreiundzwanzig Tagen vierzehn Stunden und achtzehn Minuten“ nicht mehr. Alex Capus feiert eine Liebe, die schicksalsgläubig und unsentimental den Unbill des Lebens trotzt. Dabei gleitet er nie ins Kitschige ab und lässt wie beiläufig europäische Historie und französisches Savoir vivre lebendig werden. Staunenswert, bezaubernd.
8. Charlotte Roche: Schoßgebete. Piper, 288 Seiten, 16,99 Euro
Wie schon in „Feuchtgebiete“ ist die Protagonistin der Autorin zum Verwechseln ähnlich. Elizabeth, 33, ist verheiratet mit dem sehr viel älteren Georg. Die ersten 17 Seiten erzählt sie mit viel Liebe zum biologischen Detail, wie sie unter der Heizdecke Sex haben, dass die Körpersäfte nur so fließen. Danach kocht sie für ihre siebenjährige Tochter Wirsinggemüse und überlegt, „wie man eine gute Mutter darstellt“. Schon befinden wir uns mitten im Charlotte-Roche-Wahnsinn, der alles mit allem verbindet und seine eigene Tabulosigkeit feiert, ob es nun um Bandwürmer oder Bordellsex geht. Dahinter aber steht, und das macht Roches zweiter Wurf mehr als deutlich, ein cleveres Konzept. Die ungelenk wirkende Sprache ist eigentlich eine geniale Collage, und ganz ähnlich verwebt sie schwere Themen: Sex, Tod und Trauer. Berührend wirken dabei vor allem die Leerstellen. Von den verunglückten Brüdern der Romanheldin erfahren wir kaum mehr als Namen und Alter: Harry (24), Lukas (9) und Paul (6).
9. Annett Gröschner: Walpurgistag. DVA, 448 Seiten, 21,99 Euro und
10. Leif Randt: Schimmernder Dunst über CobyCounty. Berlin Verlag, 240 S., 18,90 €
Für das Genre des Berlin-Romans war 2011 ein gutes Jahr. Gleich zwei gelungene Würfe sind zu verzeichnen, die gegensätzlicher kaum sein könnten. Annett Gröschner hat reale Zeitzeugenberichte gesammelt, die allesamt vom 30. April 2002 stammen, und sie zu einem zeitweise magischen, fantastischen Romangebilde verwoben. Leif Randt schildert eine nicht genau verortete Metropole der Kreativindustrie, deren Bewohner von cooler Ironie getrieben werden – und wie bei jenen Pop-Art-Bilder, die eigentlich nur aus bunten Punkten bestehen, tupft er so ein gut erkennbares Bild vom süßen Leben in Bad Berlin auf die Leinwand. Der 26-jährige Literaturagent Wim Enderson erlebt so einiges – erst steht die Partysaison, der „Frühling“, an, dann erschüttern allerlei Unglücke die Stadt – doch scheint ihn nichts aus der Ruhe zu bringen. Wenn seine Freundin Carla per SMS mit ihm Schluss macht, dann nennt er dies „die Folge einer klugen Sachentscheidung“. Denn seine eigenen Gefühle sind ihm ja nichts als Mutmaßungen: „Weil ich annehme, dass ich energie- und kraftlos bin, warte ich schweigend auf den Hauslift.“
Gar nicht cool dagegen ist Gröschners Berlin: In 78 Episoden um 15 verschiedene Protagonisten zeigt nicht die Medien- und Glitzerstadt, sondern die Heimat der Stadtstreicher, Alleinerziehenden, Taxifahrer. Und trotzdem ist ihr Berlin nicht dunkel und trostlos, sondern von einer hellsichtigen Lakonie. Eine Welt, in der drei alte Damen, die von der Medien-Schickeria aus ihren billigen Wohnungen im Prenzlauer Berg vertrieben wurden, mal eben und ganz beiläufig einen Porsche anzünden. Was mancher ja doch wieder cool finden wird.
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