Essen. . Sie schrieb dem Osten wie dem Westen aus der Seele und ergründete, wie sie wurde, was sie war: Christa Wolf starb mit 82 Jahren in Berlin. Da Geschichte von unten nicht zu machen war, probierten wir es mit Geschichte von innen, schrieb Christa Wolf. Ihre „Kassandra“ wurde zu einer Ikone der Frauenbewegung.
Vielleicht hat die am heutigen Donnerstag gestorbene Christa Wolf geahnt, wie nahe sie dem Tod schon war, vielleicht hat sie sich deshalb in ihrem letzten, wie so oft ganz offen über das eigene Lebensgestrüpp brütende Roman „Stadt der Engel“ doch einmal ironische Passagen erlaubt. So viel heitere Selbstdistanz war nie die Sache der Christa Wolf. Im Gegenteil: Sie ging der gesellschaftskritischen Ergründung des eigenen Ichs und seiner Geschichte mit einer oft grimmigen Sorgfalt nach, die sonst kaum jemand erreichte. Weder in der DDR noch im Westen.
Um die Frage „Bleiben oder gehen?“ kreiste schon ihr zweites Prosawerk „Der geteilte Himmel“ (1963). Was sie darin von ihren Erfahrungen mit der Arbeit in einem Waggonwerk berichtete, in das sie der „Bitterfelder Weg“ der DDR-Literatur verschlagen hatte, war mehr Realismus als Sozialismus. Ein mutiges Stück Literatur kurz nach der Errichtung der Mauer, und überhaupt überschritt Christa Wolf auch, gerade im Festhalten an einer sozialistischen Utopie, wieder und wieder die Grenzen des Erlaubten in der SED-Diktatur.
Geist und Seele wundgescheuert
Am 4. November 1989 hatte sie als Kundgebungsrednerin auf dem Berliner Alexanderplatz noch ein letztes Plädoyer für einen „Dritten Weg“ gehalten, für ein paar Tage war sie sogar als Nachfolgerin von Erich Honecker im Gespräch – kurz bevor ihr westliche Kritiker wie Frank Schirrmacher vorwarfen, sie habe ihre Stimme nicht laut und offen genug gegen das kunstferne Regime erhoben. In Wahrheit ging es nicht um Christa Wolf: Mit ihren Werken sollte gleich die ganze engagierte Literatur entsorgt werden.
Dabei war das Faszinierende an Christa Wolfs Romanen, dass sie Nöte, Zwänge und Widersprüche von Menschen, von Frauen zumal beschrieben, die man im Osten wie im Westen kannte: Im Heinrich von Kleist und der Günderrode der Erzählung „Kein Ort. Nirgends“ fanden sich hier wie dort all jene wieder, die sich Geist und Seelen wundgescheuert hatten – an Verhältnissen, die sich nicht umkrempeln ließen, sondern bestenfalls aufhübschen, was sie am Ende nur stabiler machte. Christa Wolf hat in dieser 1977 geschriebenen Erzählung auch ihre Erfahrungen mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann verarbeitet – und erst später erfahren, dass es die Stasi war, die das Gerücht verbreitete, sie habe ihre Unterschrift bei der Protestresolution wieder zurückgezogen.
„Kassandra“ - Ikone der Frauenbewegung
Es waren die Jahre, in denen alle spürten, dass Geschichte von unten nicht zu machen war und es mit Geschichte von innen probierten, schrieb Christa Wolf die Wege des Scheiterns auf, in den ungehaltenen inneren Reden der „Kassandra“, die zu einer Ikone der Frauenbewegung wurde, wie später im „Sommerstück“.
Wichtige Werke
- "Moskauer Novelle" (1961) über die Beziehung einer Ost-Berliner Ärztin und einem russischen Dolmetscher
- "Der geteilte Himmel" (1963) über die Liebe zwischen einer Studentin und einem Chemiker
- "Nachdenken über Christa T." (1968) über die Spannung zwischen historischer Entwicklung der Gesellschaft und individueller Entfaltung
- "Kindheitsmuster" (1976): semi-autobiografischer Roman
- "Kassandra" (1983) über den Geschlechterkonflikt und die Gefährdung des Friedens
- "Was bleibt" (1990) über die Überwachung durch die Stasi und das daraus resultierende Gefühl der Bedrohung
- "Auf dem Weg nach Tabou" (1994): persönliche Chronik über Wunden und Verletzungen
- "Medea. Stimmen" (1996), in dem Wolf den antiken Mythos im Sinne ihrer Kritik an der gesellschaftlichen Ausgrenzung des Fremden formt
- "Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud" (2010) über Wolfs Aufenthalt in Los Angeles, der zur Aufarbeitung der Vergangenheit wird (dapd)
Aus den vielen großen und den wenigen misslungenen Erzählungen Christa Wolfs aber ragt der Roman „Kindheitsmuster“ heraus, in dem sie dem Werden des eigenen Ichs in der Nazi-Zeit nachgeht, das Ent- und Fortbestehen von autoritären Verhaltensmustern ergründet, wie es ähnlich gründlich vielleicht nur Uwe Johnson in seinen „Jahrestagen“ betrieben hat – auch er ja ein Autor, der Erfahrungen mit beiden totalitären Gesellschaften Deutschlands im 20. Jahrhundert gemacht hatte.
Stasi-Mitarbeit „vergessen“?
Ein Roman wie „Kindheitsmuster“ oder auch ihr „Nachdenken über Christa T.“ macht es denn auch völlig unverständlich, warum sie „vergessen“ haben sollte, dass es neben 42 dicken Aktenordnern über das Stasi-Opfer Christa Wolf auch noch einen dünnen grünen Aktendeckel über die Stasi-Mitarbeiterin gleichen Namens gab. Sie wird es so vergessen haben wie Günter Grass seine Mitgliedschaft bei der Waffen-SS. Denn je später das Hadern mit derlei biografischen Schandflecken einsetzt, desto mehr wächst sich das Überwundene, Bewältigte in der Retrospektive zum Skandal aus.
Als sie 75 wurde, ließ Christa Wolf „Ein Tag im Jahr“ erscheinen, eine Jahrzehnt-Chronik, die an jedem 27. September eines Jahres festhielt, was der Stand der Dinge war. Im Alltag einer Schriftsteller-Karriere verdichtet sich hier die Geschichte eines Landes, in Zweifeln und Skrupeln, in den Privilegien einer ZK-Kandidatin der SED und einer Frau, die mit jeder Faser aus der Geschichte in die Gegenwart hineinsprach, weil es ihr um eine Zukunft ging, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht mehr der Regelfall ist, sondern die Ausnahme.