Essen. Washington, London, Paris, Bonn - man hat den Klang noch im Ohr, aber das Nachrichten-Bonn der Tagesschau ist Geschichte. Die Hauptstadtspuren in der Stadt verschwinden allmählich. Ein Rundgang durch das alte Bonn und eine Begegnung mit Orten, die bis vor zehn Jahren nicht öffentlich waren.

// »Bonn. Nach Beendigung der deutsch-französischen Konsultationen ist Präsident Giscard d’Estaing am Morgen nach Paris zurückgekehrt. Der offizielle Teil des Besuches war am Vorabend mit einem Empfang des Bundespräsidenten in der Villa Hammerschmidt zu Ende gegangen. Bundeskanzler Schmidt sagte zum Abschied vor dem Palais Schaumburg …« Tagtäglich haben Tagesschau-Sprecher ihre Nachrichten mit dieser einsilbig dunklen Spitzmarke eingeleitet: Bonn. Washington, Brüssel, Addis Abeba – die ganze Welt. Und: Bonn. Man hat den Klang im Ohr, nach zehn Jahren noch. Aber in Wahrheit ist das Nachrichten-Bonn passé. Geschichte. In der Stadt sind viele Spuren schon verwischt. Dafür kommt der normale Bundesbürger neuerdings an Orte, die einst nur Notabeln über rote Teppiche betreten durften.

»Entweder et räänt oder de Barrier is eraff – un wenn beidet zesammekütt es Staatsbesooch.« So glossierten die Bonner selbst ihr hauptstädtisches Lebensgefühl. Mit den Staatsbesuchen ist es nicht mehr weit her. Den Regen aber haben wir prompt wieder angetroffen. Und an der Bahnlinie beim ehemaligen Regierungsviertel ist immer noch alle paar Minuten die Schranke »eraff«. Man sieht allerdings hauptsächlich Regionalzüge durcheilen. Ein Blick auf den Fahrplan bestätigt: ICEs sind rar geworden. Gerade fährt ein Zug ab, dahin, wo jetzt die Staatsbesuchsmusik spielt: »Berlin, Südkreuz«. Durch die Schnellstrecke Köln-Frankfurt abgehängt zu werden, wäre Bonn als Hauptstadt nicht passiert; Pläne für einen teuren Umweg unterm Regierungsviertel hindurch lagen in der Schublade. Dann rauschte der Mantel der Geschichte.

Die Nähe zum Zentrum der Macht

Als unser knittriger Stadtplan ganz neu war, 1989, hatte Bonn den Höhepunkt seiner hauptstädtischen Existenz erreicht; dass der Anfang vom Ende so nah war, ahnte kein Mensch. Man feierte sich gleich doppelt: »Bonn wird 2000« und »40 Jahre Bundeshauptstadt Bonn«. Der Plan ist dicht gesprenkelt mit Markierungen für Bundesministerien, Bundesanstalten und -verbände, vor allem natürlich im Regierungsviertel, das sich gerade damals anschickte, die Nachkriegsprovisorien hinter sich zu lassen und sich für eine kleine Ewigkeit zu rüsten: »Bundesmin. für Verkehr in Bau«. Was ist übrig?

Früher war man sich immer dessen bewusst, dass man am Rhein, auf der Uferpromenade, dem Zentrum der Macht sehr nahe kam. Phasenweise wurde dieses Gefühl überdeutlich: weil ständig Militärhubschrauber in der Luft waren, weil Uniformierte herumstanden, denen die Gummiantennen krächzender Funkgeräte aus der Brusttasche lugten und meist auch MPis vor dem Bauch baumelten. Willkommen fühlte man sich da nicht. Das ist heute wohltuend anders.

Logistik und Kommunikation

Andererseits: Wenn man am »Langen Eugen« landeinwärts abbiegt mitten ins Regierungsviertel, überkommt den altgedienten Bundesbürger doch eine gewisse Melancholie. Hier war das Herz der Republik, in dieser unnachahmlichen Melange aus Gründerzeitvillen, Neuer Sachlichkeit und bundesrepublikanischen Zutaten, die in ihrer Schlichtheit oft das Pavillonhafte streiften, ganz im Sinne jenes Provisoriums, das dann so jäh endete. Heute sind hier Organisationen der Vereinten Nationen und der Entwicklungshilfe mehr oder minder etabliert, dazu das »World Conference Centre Bonn«. Einige der alten Gebäude dienen ihnen als Hülle: die alte Pädagogische Akademie (Bundeshaus) mit dem 1992 angeklebten Behnisch-Plenarsaal, das Übergangs-Parlament »Wasserwerk«, Eugen Gerstenmaiers Abgeordneten-Hochhaus, das ehemalige Journalisten-Zentrum »Tulpenfeld« mit jenem Anbau, in dem Politiker sich der Bundespressekonferenz zu präsentieren pflegten.

Einzig vor dem nördlichen, dem Bundesrats-Teil des alten Bundeshauses weht noch Schwarzrotgold, weil die Länderkammer dort eine Dependance hat. Im Bundestagsflügel betreibt das Logistikunternehmen TNT ein Trainingszentrum. Vor dem Gebäude flattern die Firmenflaggen. Logistik und Kommunikation ist überhaupt das große Thema im erweiterten, seit 1993 so genannten »Bundesviertel«. Es dominieren Telekom und Post, deren gläserner »Tower« den »Langen Eugen« kurz aussehen lässt.

Geschichte wird nicht erlebbar

Diese Ansiedlungen sind fein für das neue, prosperierende Bonn, doch kommt dem Besucher angesichts der Firmenflaggen am Bundeshaus der Begriff Profanierung in den Sinn, zumal rundum der Umbau mit einiger Gewalt weitergeht. Da wachsen Erweiterungen des »Conference Centre« heran, denen ein gutes Stück Bonner Geschichte weichen musste: neben Ländervertretungen die Unterkünfte zahlreicher Zeitungs-, Hörfunk- und Fernsehkorrespondenten, das WDR-Studio und vor allem der Sitz der Parlamentarischen Gesellschaft, die denkmalwerte »Villa Dahm«.

Der Ursprung des Übels lag wohl im Jahr 1986, als man den alten Plenarsaal abreißen ließ, den Hans Schwippert der Akademie angefügt hatte. Der Nachfolgebau von Behnisch blieb aber wie das Ausweichquartier »Wasserwerk« Episode. Der historische Kern also fehlte schon. Und so sind die Zeugen parlamentarischen Lebens heute zu fragmentarisch und von neuer Nutzung zu sehr überlagert, als dass sie Geschichte erlebbar machen könnten – auch wenn sie als Teil eines »Weges der Demokratie« firmieren.

Villa Hammerschmidt und Kanzleramt bleiben tabu

Anders jener abgeschottete Park, an dessen Zaun einst Gerhard Schröder gerüttelt haben soll, weil sich dahinter die Symbole bundesrepublikanischer Macht befanden: Villa Hammerschmidt und Palais Schaumburg als Amtssitze von Präsident und Kanzler, dazu das Bundeskanzleramt, Sinnbild des modernen Regierungsapparates. Dieser Park, dessen Kieswege nur unter den Schuhen von Ministern, Beamten und hohen Gästen knirschten, ist im Jubiläumsjahr erstmals normalen Menschen zugänglich – ein bisschen.

Villa Hammerschmidt und Kanzleramt bleiben tabu: Die Villa ist zweiter Dienstsitz des Bundespräsidenten; im Kanzleramt residiert seit 2006 die »rote Heidi« mit ihrem Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Das Palais Schaumburg, zweiter Kanzler-Dienstsitz, kann in Gruppen besucht werden; das Procedere mit Vorausanmeldung und Überprüfung in Berlin ist indes abschreckend. Der einfachste Weg hinter den Zaun führt zu einem Gebäude, das von außerhalb nie zu sehen war und auf Plänen nur als eckiger Fleck verzeichnet ist: zum frisch restaurierten Kanzlerbungalow. Auch da herrscht Gruppenzwang, aber sonntags können sich Individuen zur Gruppe formen, und es reicht der Personalausweis.

Transparenz und Leichtigkeit

Das Türchen zum Park öffnet sich am Bundeskanzleramt mit Henry Moores fernsehbekannten »Large Two Forms«, die Helmut Schmidt vor seiner »Provinzsparkasse« hatte aufstellen lassen. Die Zeit drängt, und die Führerin droht ihren Schäfchen immer wieder zu enteilen, von denen viele älter sind als diese Republik. Kleine Pause beim Palais Schaumburg: da der Mammutbaum, vor dem sogar Helmut Kohl schlank erschien, dort die Stelle, wo Kiesinger den Tisch zur Freiluft-Kabinettssitzung aufstellen ließ. Früher, durchfährt es den Besucher, war dies der exklusivste Park der Nation – prächtiges Promenadendeck im »Raumschiff Bonn«. Und weiter.

Minuten später steht der Trupp vor dem Bungalow. Es fällt schwer, den Flachbau mit Ludwig Erhards rundlicher Gestalt zu verbinden. Das hätte man dem altfränkischen Zigarrenmann nicht zugetraut. Was ihn fasziniert haben mag an Sep Rufs Architektur, sieht man schon am Eingang: Der Blick geht durchs Haus hindurch über den abfallenden Rasen bis hinunter zum Rhein und aufs andere Ufer. Transparenz! Leichtigkeit! Der zweite Eindruck, im Inneren: Schwarzweiß wirkt der Bau besser. Die beigefarbenen Klinker sind Geschmackssache, und manche Holzvertäfelung ist zu düster und konterkariert die Leichtigkeit. Da versteht man doch, dass Kiesinger helle Seidentapeten einführte. Weniger verzeihlich, dass Kohl Gardinen raffen und überm Tisch einen bräunlichen Kasten mit lauter winzigen Lämpchen an die Decke hängen ließ: ein Hotel-Sternenhimmel aus den 80ern, der längst auf den Müll gehörte, wäre er nicht auch schon »Gechichte« geworden. Die Führerin aber schaltet den Horror-Himmel ein, und die Volksabordnung seufzt: »Oh wie schön!«

Banal erneuertes Badezimmer

Dass sie den netto vielleicht 80 Quadratmeter großen privaten Teil des Bungalows mit Stirnrunzeln betrachten, ist dagegen verständlich. Ebenso, dass alle Kanzler nach Erhard an dieser Wohnung gelitten haben, dass sie oft entflohen nach Bebenhausen, Langenhorn und Oggersheim, dass Zaunrüttler Schröder wie schon Willy Brandt ganz verzichtete: Da will ich nicht rein. Die unbegreifliche Enge ist es auch, die dem Besucher ein Gefühl der Indezenz vermittelt angesichts des Schlaf- und des irgendwann banal erneuerten Badezimmers: Das geht eigentlich niemanden etwas an. Nähme man privaten und repräsentativen Teil zusammen, dann wäre Sep Rufs Kanzlerbungalow ein Traumhaus. Aber nur dann.

Die Zeit drängt. Draußen eilt die Gruppe noch durch den Park zum Rhein hin. Übers Mäuerchen blickt man auf die Promenade und begreift erst, wie nah dieser eigenartige Kanzler-Kosmos am richtigen Leben lag. Ob je ein Regierungschef unerkannt von dort auf seine lustwandelnden Bürger herabsah? Vermutlich nicht. Seit 1977 stehen sogar Panzerglaswände vor der Terrasse des Bungalows; die Idee, den Kanzler samt Staatsgästen vom Rhein her abzuschießen, war RAF-Pistolenhelden zuzutrauen.

Zu lange her

Natürlich gibt es noch andere Erinnerungen an die alte Republik. Das Museum König, wo zwischen ausgestopften Tieren der neue Staat begründet wurde. Den Hofgarten, wo man gegen den NATO-Doppelbeschluss protestiert hat, in einer anderen Republik, in einem anderen Leben. Das Erich-Ollenhauer-Haus ohne SPD ist aber schon ziemlich nichtssagend. Und vieles ist einfach längst nicht mehr da. Die CDU hat ihr Konrad-Adenauer-Haus sprengen lassen. Die Grünen-Kneipe »Provinz«, von der aus Gerhard Schröder nach gegenüber zum Zaunrütteln ging – weg. Und auch der »Kessenicher Hof«, Stammlokal der SPD-Kanalarbeiter, existiert schon fast zwanzig Jahre nicht mehr – man mag sich noch so gut an Spiegel-Geschichten über Egon Frankes hannöversches Saufritual »Lüttje Lage« erinnern. Gut, Helmut Kohls Lieblingsitaliener am Kessenicher Kartäuserplatz gibt es noch. Man versucht sich vorzustellen, wie er da eingefallen ist, die ewigen Slipper unter den Tisch geschoben und Spaghetti Carbonara geordert hat. Aber das Bild bleibt blass. Zu lange her. Kürzlich haben die letzten beiden Bonner Botschaften den Sprung nach Berlin geschafft: Demokratische Republik Kongo und Sierra Leone. Nun ist es wirklich passé.

Die Füße tun weh. Die »Barrier« ist »eraff« und »et räänt«. Aber die Schranke geht auch wieder auf. Die »Südstadt« jenseits der Bahnlinie ist eines der schönsten Gründerzeitviertel im Land. Wir setzen uns in ein schickes Lokal und überlegen: Was nun in Bonn? Es gibt weiß Gott genug zu sehen, jenseits von Hauptstadt-Nostalgie. Aber das ist eine andere Geschichte. Und man müsste dann wohl mal einen aktuellen Stadtplan kaufen: Bonn. 2009. //

Text: Martin Kuhna / erschienen in K.WEST Ausgabe Juli / August 2009