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Taugt Harry Potter schon für zehnjährige Leser? Forscher warnen: Verlage und Händler geben oft falsche Altersempfehlungen. Ihr Tipp: Lasst die Kinder selbst aussuchen.

Für DVDs gelten strenge Regeln: Auf jeder steht eine Altersempfehlung. Unabhängige Experten legen die fest, nicht die Filmemacher. Bei Büchern ist das anders. Hier ist die Altersempfehlung Sache der Verlage und der Buchhändler. Und die liegen meist ziemlich daneben. Sagen Literaturwissenschaftler.

„Harry starrte in dieses Gesicht, das ihn drei Jahre lang in seinen Alpträumen verfolgt hatte. Weißer als ein Schädel, mit weiten, scharlachrot lodernden Augen und einer Nase, die so platt war wie die einer Schlange, mit Schlitzen als Nüstern.“ Diese Beschreibung von Lord Voldemort aus „Harry Potter und der Feuerkelch“ dürfte Horror-, Thriller- und Fantasy-Fans amüsieren. Doch der düstere Lord taugt allemal, sich in die Alpträume eines Grundschülers zu zaubern.

„Ab zehn Jahren“ – das ist die Empfehlung für Potter-Bücher. Literaturwissenschaftler sind sich einig: Eigentlich ist das Jugendliteratur für Ältere, zumindest die letzen vier Bände. Zu grausam, zu schaurig, zu weit weg vom Horizont eines Zehnjährigen.

Der Verkäufer muss den Erwachsenen überzeugen, nicht das Kind

„Verlage schätzen das Lese-Alter oft zu niedrig ein, das verbessert die Verkaufschancen“, weiß Hans-Heino Ewers vom Institut für Jugendbuchforschung an der Uni Frankfurt. Buchhandlungen seien ebenfalls großzügig bei der Altersempfehlung. „80 Prozent dieser Bücher werden von Erwachsenen für Kinder gekauft. Der Verkäufer muss also den Erwachsenen überzeugen, nicht das Kind“, so Ewers. Der Rat des Professors: „Schickt die Kinder in öffentliche Bibliotheken, wo sie selbst in Büchern stöbern können.“ Kleine Leser hätten ein gutes Gespür dafür, was für sie geeignet ist. Laut Bernhard Rank, Jugendbuch-Experte aus Heidelberg, spricht noch etwas für die Bücherei: „Im Handel gibt es nicht mehr viele ausgebildete Fachkräfte“, sagt Rank.

Konstanzer Wissenschaftler haben ein Computerprogramm entwickelt, mit dem Eltern angeblich berechnen können, welche Bücher für ihr Kind geeignet sind. „Age Suitability“ heißt es, erdacht allerdings nicht von Bücherwürmern, sondern von Informatikern. Bisher ist es ein reines Forschungsprojekt. Johannes Fuchs, einer der Erfinder, hält die Altersempfehlungen der Verlage ebenfalls für willkürlich. „Unsere Soft­ware macht keinen Altersvorschlag, sondern ist nur eine Hilfestellung. Sie beschreibt die Komplexität der Handlung und der Sprache. Sie erklärt, welche Gefühle eine Geschichte weckt.“ Die Texte werden ins Programm eingespeist, automatisch analysiert, und das Ergebnis taucht in einem Diagramm auf. Der Nutzer sieht, wie oft und wo die Figuren auftauchen, ob die Schrift für kleine Leser geeignet ist oder ob es im Buch um Themen wie Krieg, Liebe oder Hass geht.

Buch-Detektive

Für Hans-Heino Ewers ist dieser Versuch, sich dem Thema mathematisch zu nähern, „unseriös“. Der beste Detektiv für ein gutes Buch sei das Kind selbst: „Es greift von sich aus gern zu schwerer Lektüre, es fordert sich auf diese Weise selbst heraus. Und das Nicht-Verstehen kann auch eine wichtige Erfahrung sein.“

Susanne Helene Becker, Jury-Mitglied für den Deutschen Jugendbuchpreis, weiß, wie schwer es sein kann, ein Buch für junge Leser zu finden. „Eltern müssen sich fragen: Womit beschäftigt sich mein Kind? Mit der Loslösung von der Familie, mit Freundschaft, mit der Sehnsucht, erwachsen zu werden? Wie steht es um seine Leseausdauer? Ein Neunjähriger kann nichts mit einem 300-Seiten-Wälzer anfangen. Man darf auch nicht davon ausgehen, dass sich 15-Jährige nur für 15-jährige Helden interessieren.“