Essen/Istanbul. . Der türkische Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk über Multitasking beim Romanlesen, William Faulkner und das Geschenk der Zweisprachigkeit.

Orhan Pa­muk ist der bekannteste Autor der Türkei. 2006 wurde der Romancier mit dem Nobelpreis für Literatur ge­adelt, im Jahr zuvor erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buch­handels. Freitagabend, 19.30 Uhr, spricht Pamuk im Audimax der Bochumer Ruhr-Uni auf Einladung des Projekts „Herausforderung Zukunft“. Rusen Tayfur sprach mit ihm darüber.

Herr Pamuk, Sie wollen in Bochum die Frage beantworten: „Was passiert mit uns, wenn wir Romane lesen?“

Orhan Pa­muk: Wenn wir Romane lesen, dann gehen viele Dinge vor in unserem Kopf. Wir versuchen, der Geschichte zu folgen, überlegen, wie viel davon der Phantasie des Autors entsprungen und wieviel real ist, wir vergleichen es mit unserem eigenen Leben, fällen moralische Urteile. Wenn wir einen Roman lesen, macht unser Hirn sechs oder sieben Dinge gleichzeitig. Das ist genau wie beim Autofahren.

Ein Freund sagte mir, dass er durch Ihre Bücher die Türken verstanden habe. Gefällt Ihnen das?

Orhan Pa­muk: Das freut mich natürlich. Zuallererst wollte ich jedoch mich selbst verständlich machen, meine eigene Welt. Das ist mir wichtiger, als die Türkei zu vertreten. Aber natürlich bin ich ein Romanschreiber, der in der Türkei lebt, in Istanbul. Die Identität, die Probleme dieses Landes wirken sich auf meine Arbeit aus.

Ihre Bücher wurden in 58 Sprachen übersetzt und sind in mehr als hundert Ländern erschienen. Die meisten türkischen Autoren jedoch arbeiten vom Ausland unentdeckt.

Orhan Pa­muk: Türkisch ist eine schwierige Sprache. Es gibt immer wieder brillante türkische Autoren, die in der Türkei viel gelesen werden, aber es ist sehr schwierig für sie, woanders Bekanntheit zu erlangen. Ich denke, dass ich da in einer sehr glücklichen Lage bin.

Weil Ihre Bücher ins Deutsche übersetzt werden, können nun auch Deutsch-Türken sie lesen, deren Türkisch nicht fürs Original ausreicht.

Orhan Pa­muk: Natürlich wünscht sich jeder Autor, dass seine Bücher in der ihm eigenen Sprache gelesen werden. Aber wenn ihr Deutsch besser ist, und mein Vertrauen in die Übersetzungen ist endlos, dann ist nichts Falsches daran, das Buch auf Deutsch zu lesen. Ich selbst lese manche Bücher sowohl auf Englisch als auch auf Türkisch. Zum Beispiel William Faulkner, der mich in meiner Jugend stark geprägt hat. So habe ich mir die Literatur erschlossen, indem ich Bücher in ihrer englischen und türkischen Version gelesen habe. Deshalb habe ich kein Problem damit, dass Türkeistämmige meine Bücher auf Deutsch lesen. Das bedeutet ja nur, dass ihr Deutsch besser als ihr Türkisch ist, darüber können wir uns freuen.

Auch wenn Sie vieles in Ihrem Land kritisieren, so sprechen Sie sich doch immer für den Beitritt der Türkei zur EU aus. Wie sehen Sie den Stand der Dinge?

Orhan Pa­muk: Das EU-Abenteuer der Türkei wird meiner Ansicht nach nicht zu einer einfachen Lösung führen. Es ist ein Abenteuer mit Höhen und Tiefen. Derzeit sieht es auf beiden Seiten nicht rosig aus, es fehlt auf beiden Seiten die Leidenschaft.

Ihre Bücher über Ihre geliebte Heimatstadt Istanbul haben auch in Deutschland das türkische Wort „hüzün“ bekanntgemacht, zu übersetzen als Wehmut oder Melancholie. Sind Sie „hüzünlü“?

Orhan Pa­muk: Nein, ich möchte glücklich sein. Hüzünlü zu sein, ist nichts, weswegen ich mich rühme. Aber dieses Gefühl, das aus der Kultur, aus der Geschichte stammt und das in meinem Istanbul-Buch anklingt, steckt natürlich auch in mir. Hüzün ist nichts, was ich gewählt habe, es ist ein Teil von mir. Doch unser Hüzün wird weniger, desto besser es der Türkei geht und umso mehr das Land sich von seinen Konflikten und Spannungen befreit.