Berlin.. Herbert Grönemeyer präsentierte in Berlin sein neues Album „Schiffsverkehr“. Viel Rock und manch anderes Dynamische und Wuchtige ist dabei. Aber vor allem die Balladen werden wieder die Herzen der Zuhörer erweichen. Vor allem „Zu Dir“.
Herbert Grönemeyer, den alle, nicht nur die Anhänger einer korrekt gewürzten Dönninghaus-Currywurst („köre-iiii-wuähss“) in Bochum verorten, der aber tatsächlich aus Göttingen kommt und kuriose Zweitvornamen wie Arthur, Wiglev und Clamor führt, wird in nicht einmal vier Wochen 55 Jahre alt.
Wer es in diesem Alter dazu gebracht hat, nach zwanzigmillionenfach verkauften Alben wie „4630 Bochum“, „Mensch“ oder „Bleibt alles anders“ und zigfach ausverkauften Stadienkonzerten in einer eigenen Kategorie der künstlerischen Schaffenskraft gewogen zu werden, der kann sich auch Neuerungen leisten, die am Ende kein Mensch braucht.
Sprung ins kalte Nass
Für das neue Werk, es ist das 13. seit 1984, kommt am 18. März in den freien Verkauf und trägt den großreederisch maritim-koitalen Titel „Schiffsverkehr“, spendierte die Plattenfirma EMI ihrem besten deutschen Pferd im Verwertungsstall zunächst eine Bootsfahrt auf der Spree. Bei Buletten, Knackwurst und zwiebellastigem Kartoffelsalat kamen am Dienstagabend rund 200 geladene Journalisten auf die MS Mark-Brandenburg zu einer Hörproben-Premiere, von der es abgesehen von einem selbstmörderischen Sprung ins kalte Nass kein Entrinnen gegeben hätte.
Auf der 80-minütigen Tour wurden die elf Lieder des neuen Albums zum ersten Mal komplett samt Bonustrack zu Gehör gebracht. So viel schon mal vorneweg: Keine immerzu rasend hohe Fontäne der musikalischen Genialität. Insgesamt knackiger, wuchtiger, gitarrenlastiger als der Vorgänger. Aber Perlentaucher kommen trotzdem ebenso blendend auf ihre Kosten wie Freunde lauwarmer akustischer Wadenbäder.
Nach dem Anlegen am Steg vor dem „Haus der Kulturen“ hinter dem Bundeskanzlerinamt gab ein prächtig aufgelegter Herbert Grönemeyer dann die erste interaktive Presse-Fan-Konferenz seines Lebens und gewährte im Zwiegespräch mit einem Moderator am Bechsteine-Flügel einen Einblick in seine musikalische Werkstatt.
Absurder Fragen-Marathon
Sieben dem zeitgenössischen Liedgut verpflichtete Wellen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, von SWR 3 über Bayern 3 bis zu WDR 1 Live, wurden nacheinander nach Berlin geschaltet. Sorgfältig ausgesuchte Mega-Hörbie-Fans durften dann ihrem Idol sehr originelle Fragen stellen, wie sie zum Beispiel einer Frau Kitzler aus Kiel einfielen: Welche Erfindung, Herr Grönemeyer, hat der Welt noch gefehlt? Zurückfragende Antwort des wackeren Probanden: „Vielleicht aus Algen Benzin machen?!“
Obacht. Wen an dieser Stelle das Gefühl beschleichen sollte, dass die Flugzeuge in seinem (oder ihrem) Bauch nur noch notlanden wollen, weil der Biosprit ausgegangen ist, dem sei gesagt: Ganz so schlimm war’s am Ende nicht. Eigentlich gar nicht.
Herbert Grönemeyer hat den absurden Fragen-Marathon, der die Atom-Katastrophe in Japan und die Lage in Libyen selbstredend nicht aussparte, wacker weg charmiert und trotzdem so manche Note setzen können. „Ich schwanke zwischen Übermut und extremen Selbstzweifeln“, sagte der Sänger zu seinem selbstironisch grundierten Song „So wie ich“. Die Mischung aus beidem sei aber nun mal die „Eitelkeit“.
„Aufbruch“, „Leben“, „Nachvornetreibendes“ und „Wildes“
Dialektik, die kein Zufall ist. 30 Jahre ist es her, dass ein sehr blasser und noch empfindsamerer Leutnant in Wolfgang Petersens Kinohit „Das Boot“ unter Wasser mit angstzerfurchter Miene gegen die Enge anspielte. Im Frühjahr 2011 hat Grönemeyer, damals nur Jung-Schauspieler, heute der neben Marius Müller- Westernhagen erfolgreichste deutsche Volksbesinger, thematisch wieder sehr nah am Wasser gebaut.
„Schiffsverkehr“, weil es so viel „Aufbruch“, „Leben“, „Nachvornetreibendes“ und „Wildes“ bedeute, präsentiert den Londoner Exilanten und (gefühlt) ewigen Bochumer als einen sehr eigenen Moralzeitgeistapostel. Stellung einnehmen, Haltung zeigen, sein ganz eigenes Ding machen (etwa in dem sehr gelungenen Afghanistan-Soldaten-Lied „Auf dem Feld“), ist wichtig für ihn. Grönemeyer singt wie immer mit zehn Merkfingern und wund gegrübeltem Kopf über die ersten und die letzten Dinge. Aber auch mit ganz viel Bauch. Und Gefühl.
11 Lieder plus Überraschungs-Ei hat er mit seinem altersgereiften Pressatmungorgan und der tüchtigen Hilfe von Leib-und Magen-Produzent Alex Silva eingesungen. Und beide lassen sich weder thematisch noch musikalisch lumpen.
Niemals enden wollender Schmerz
Rockabilly- und Polka-Anleihen in „Fernweh“, zuckersüße Orchester-Streicher-Klangteppiche in „Deine Zeit“, funkig-federleichte Einsprengsel in der Ode für Frischauseinandergegangene „Lass Es Uns Nicht Regnen“, düstere Rammstein-Versatzstücke in „Kreuz Meinen Weg“, dramatisch aufgebretzelte Italo-Western-Sounds in „Erzähl Mir Von Morgen“, stadionhymnen-tauglicher Anti-Einzelkämpfer-Protest in „Wäre Ich Einfach Nur Feige“ finden auf dem Album ebenso Platz wie die unkaputtbaren Balladen.
Wirklich herausragend und herzerweichend in dieser Sparte: „Zu Dir“, das man sich schon heute als Unplugged-Solo im Randy Newman-Stil nur mit Grönemeyer am Klavier wünscht. Ein betörend schönes, erst tom-waitsig, dann shuffle-rockig daherkommendes Stück über den niemals enden wollenden Schmerz nach dem Verlust eines sehr lieben Menschen: „Wenn Kein Augenpaar Deine Farbe Hat/Und Deine Sicherheit Aus Keinen Blicken Strahlt/Wenn Im Telefon Nicht Deine Stimme Wohnt/Will Ich Zu Dir/Will Ich Zu Dir/Weil Sichs Nur Zu Leben Lohnt/Wenn Du Mich Betonst/Will Ich Zu Dir“.
Beistand und Geborgenheit
Wer darin die abermalige Verbeugung vor seiner 1998 verstorbenen Frau Anna Henkel erkennen will, liegt wohl nicht falsch. Trost, Beistand und Geborgenheit bleiben eben Konstanten im Werk des Künstlers. Aber Grönemeyer, so hat er es immer gehalten, stilisiert seine persönliche Lebenserfahrungen so, dass sie auch Außenstehende tief berühren. „Deine Zeit“ etwa ist ein Lied über die Alterdemenz seiner Mutter. „Du darfst nicht gehen, du läufst schweigend in Vergangenheiten weg.“ Kitsch bis an die Erträglichkeitskante ist für den spielerisch-routinierten Worthülsen-Lyriker Grönemeyer, der nach eigenem Bekunden Charles Aznavour ebenso schätzt wie „Antony and the Johnsons“, kein Problem. „Solange es nicht sülzig wird.“
Entstanden ist das neue Opus über viele Monate im Stockholmer Mono Music Studio, in den Londoner Abbey Road Studios, den Hansa Ton und Hansaplatz Studios in Berlin sowie den Electric Lady Studios in New York. Jetzt, wo sein neues „Baby“ in der Welt ist, möchte er es „behutsam“ behandelt wissen, sagte Grönemeyer. Weil: „Es ist rund. Und schlabbert nicht.“ Schlabbert nicht? Auf hoher See und vor Gericht sind die Deutschen weiter in „Hörbis“ Hand. Und jetzt Leinen los! Schiffsverkehr!
P.S.: Kein neuer Grönemeyer ohne Bühne. Am 31. Mai startet die Tournee, passend zum Thema an der Ostsee-Küste in Rostock. Landratten aus dem Verbreitungssektor des Internetportals „DerWesten“ dürfen sich den 7.Juni (Gelsenkirchen), den 8. Juni (Düsseldorf) und den 13. Juni (Köln) schon mal vormerken. Schwimmwesten und Taschentücher mitbringen? Kann sicher nicht schaden.