Essen. .

Die größte Sehnsucht wird für viele Menschen an Heiligabend unerfüllt bleiben - sie werden keine Ruhe finden. Stille Nacht, eilige Nacht? Autor Ulrich Schnabel erklärt, wie Muße wieder funktionieren kann.

Stille Nacht, eilige Nacht. Die größte Sehnsucht wird heute für die meisten Menschen unerfüllt bleiben: Sie werden keine Ruhe finden. Werden im Stress den Parkplatz vor der Kirche suchen, von einer Feier zu anderen hetzen, sich mit langwierigen Bauanleitungen für Ritterburgen die Geduld zermürben. Werden mit rasendem Herzen, unruhig, neben dem Tannenbaum sitzen. Das Fest der Liebe soll eine Insel sein im Meer der täglichen Herausforderungen – und in Wahrheit kommen viele noch nicht mal in Strandnähe.

Foto: imago
Foto: imago

Was Weihnachten mit dem Sommerurlaub gemeinsam hat: Unser Selbst verweigert sich einer Entspannung auf Befehl. „Wie Neurobiologen mittlerweile gezeigt haben“, weiß der Wissenschaftsjournalist Ulrich Schnabel, „schreibt sich jede häufig wiederholte Gewohnheit mit der Zeit regelrecht in unsere biologische Struktur ein: Die Zellen und Synapsen in unserem Gehirn stellen sich auf ein gewisses Reizniveau ebenso ein wie der Körper auf die tägliche Dosis Koffein.“ Fehlt der Reiz des ständigen Beschäftigtseins, „reagieren wir wie Suchtkranke mit Entzugserscheinungen“.

Ertappt! Da gibt es Muße für Eilige

Schnabel hat ein Buch über das geschrieben, was uns so schmerzlich fehlt: Muße. Er nennt es „einen Diätratgeber für den Geist“ und ertappt seine Leser schon beim ersten Durchblättern: Die Zusammenfassung am Ende heißt „Muße für Eilige“.

Sind wir wirklich so?

Ja.

Am deutlichsten wird unsere geistige Fehlernährung im Umgang mit der neuen Technik. Büromenschen sind Unterbrechungen derart gewöhnt, dass sie sich bei deren Ausbleiben schon selbst ablenken. Ein Leben ohne Internet ist so besonders, dass Menschen über ihre Offline-Extremerfahrungen Bücher schreiben. Und Bestseller-Autoren prangern in ihren Werken die Schrecken des digitalen Lebens an: „Irgendjemand oder irgendetwas hat an meinem Gehirn herumgebastelt“, klagt Nicholas Carr. Frank Schirrmacher kapituliert: „Mein Kopf kommt nicht mehr mit.“

Das Gefühl, etwas zu verpassen

Warum gelingen uns einfache Lösungen – nur noch zweimal am Tag Mails lesen, das Handy nachts ausschalten – so schlecht? Weil wir das Gefühl haben, etwas zu verpassen (und manchmal tun wir das ja auch). Da fühlen wir uns lieber „fahrig, fremdgesteuert und irgendwie nur halb anwesend“, wie Schnabel so treffend beschreibt. Diese Gier nach Informationen, Sozialkontakten, Erlebnissen ist gar nicht neu. Ende der 90er-Jahre brachte Herbert Grönemeyer die allgemeine Gemütslage mit dem Album „Alles anders“ auf den Punkt; der Text lautete: „Genug ist zu wenig, oder es wird so wie es war, Stillstand ist der Tod, geh voran, bleibt alles anders.“ Entscheidend bei diesem Panik-Rock der anderen Art sind zwei Worte – Stillstand und Tod.

Stillstand: 1748 prägte Benjamin Franklin den berühmten Satz: „Zeit ist Geld.“ Beides sind Erfindungen des Menschen, die die globale Vernetzung der Welt erst möglich machten. Ende des 13. Jahrhunderts schlugen die ersten Turmuhren in den Handelsmetropolen, seither beschleunigt sich unser Leben stetig. So sehr, dass schon Goethe Einwände hatte: Er warnte vor einem veloziferischen Zeitalter (velocitas, die Eile – luzifer, der Teufel).

Zeit ist eines der wertvollsten Güter

Foto: imago
Foto: imago © imago stock&people

Die enge Taktung unseres Alltags macht Zeit zu einem der wertvollsten Güter. Und obwohl wir ständig neue Dinge erdenken, die uns Zeit sparen sollen, haben wir immer weniger davon. Denn mit steigendem Wohlstand nehmen auch unsere Wünsche zu – nicht aber die Freizeit, die zu ihrer Erfüllung bereitsteht.

Vielleicht überlegen Sie beim nächsten Einkauf einmal nicht: ob Ihnen ein bestimmtes Produkt das Geld wert ist, das es kostet. Sondern: Ob es die Zeit wert ist, die Sie aufwenden müssen, das Geld zu verdienen.

Tod: Wer Ruhe und Muße finden will, muss sich der eigenen Endlichkeit stellen. In Zeiten, in denen die meisten Menschen nicht mehr an ein Paradies glauben, muss das diesseitige Leben bereits alle Hoffnungen und Wünsche erfüllen. Aber ein möglichst volles Leben bedeutet noch nicht: ein erfülltes Leben. Erfüllung hat mit dem Glück zu tun, sich auf eine Sache eingelassen zu haben – und nicht, möglichst viel möglichst gleichzeitig konsumiert zu haben (Güter, Karrieren, Liebschaften).

Was ist die Belohnung, wenn wir Stillstand und Endlichkeit aushalten lernen? Ein Moment, in dem wir ganz bei uns sind. Den Griechen war die Muße gar der höchste Lebenszweck, allerdings stellten sie sich darunter etwas vor, was heute viele als Arbeit empfinden würden: eine Auseinandersetzung mit Philosophie, Kunst, Musik. Tatsächlich können wir Mußestunden sogar bei der Arbeit erleben: Wenn uns unser Tun in jenen Zustand versetzt, der als Flow bezeichnet wird. Flow bedeutet: eine Sache um der Sache selbst willen tun – ob das nun eine Projektpräsentation ist, ein Aquarellbild oder eine Bergbesteigung.

Oder: das Singen eines Weihnachtsliedes. Stille Nacht, zum Beispiel.

  • Ulrich Schnabels Buch „Muße – Vom Glück des Nichtstuns“ ist im Blessing-Verlag erschienen, es hat 288 Seiten und kostet 19,95 Euro. Zuletzt hatte Schnabel sich im Sachbuch um „Die Vermessung des Glaubens“ verdient gemacht