Berlin. Zwölf Jahre lang arbeitete der französische Regisseur (1925-2018) an seinem Film. Die Berlinale zeigt ein Making-of von Guillaume Ribot.
80 Jahre sind seit der Befreiung der letzten Überlebenden im KZ Auschwitz-Birkenau vergangen. Aus diesem Anlass zeigte die Berlinale am Sonntag in der der Reihe Special Claude Lanzmanns neun Stunden langen Dokumentarfilm „Shoah“ mit Zeitzeugen-Interviews, an dem der Regisseur zwölf Jahre gearbeitet hat.
Wie beharrlich der jüdische Filmemacher, der die deutsche Besatzungszeit in der Auvergne verbrachte und als Gymnasiast selbst Widerstand leistete, seine selbstgestellte Aufgabe verfolgte, zeigt die Dokumentation „Je n’avais que le néant“ von Guillaume Ribot, die bei der Berlinale ihre Weltpremiere feiert. Ribot, 46 Jahre jünger als Lanzmann, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, verwendet bislang unveröffentlichtes Filmmaterial von Lanzmanns Dreharbeiten. Aus dem Off sind Lanzmanns eigene Texte zu hören, vor allem Auszüge aus seiner Autobiographie „Der patagonische Hase“. „Je n’avais que le néant“ (zu deutsch: Ich hatte nur das Nichts) ist ein Porträt, montiert aus Erinnerungen des einzigartigen Filmemachers und 220 Stunden Filmmaterial, das keinen Eingang in die 1985 veröffentlichte monumentale Doku „Shoah“ fand, ebenso wie ein Making-of.
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In vielen der Szenen, die Ribot ausgewählt hat, ist Claude Lanzmann selbst zu sehen. Am Steuer eines Autos spricht er darüber, keine Ahnung zu haben, wohin ihn die Recherche führe – nichts als das titelgebende Nichts habe er in der Hand. Das Nichts ist natürlich auch das ungeheure Menschheitsverbrechen des Holocaust, hebräisch Shoah, bei dem die Nazis und ihre willfährigen Helfer sechs Millionen europäische Jüdinnen und Juden umbrachten. Und das ganz offen: In einer eindrücklichen Sequenz sieht man Lanzmann im Kreis polnischer Bauern stehen, der Großstädter mit hellen Hosen und Schuhen tief im Matsch. Fast verwundert ob seiner Fragen erzählen ihm die Einheimischen, dass sie natürlich mitbekommen hätten, wie die Deportationszüge mit verzweifelt schreienden Menschen in der Nähe ihres Dorfes angekommen seien.
Andernorts hört Lanzmann bei einem Spaziergang von seinem Begleiter, dass die Wälder, durch die er stapft, nicht immer so still gewesen seien: Während des Zweiten Weltkriegs hätten sie von Schreien, Hundegebell und Schüssen widergehallt. In Treblinka und Sobibor lebten, so wie an vielen Orten des Grauens, Menschen direkt neben den Konzentrationslagern ihren Alltag. Diese Gleichzeitigkeit zu zeigen, ebenso wie die tiefen Traumata, die das Durchstandene bei Überlebenden hinterlassen hat, ist das unschätzbare Verdienst von Lanzmanns „Shoah“, der 2023 von der UNESCO ins Weltkulturerbe aufgenommen wurde.
Als einen besessenen Rechercheur, der von seinen Erkenntnissen affiziert wird, zeigt Guillaume Ribot seinen Landsmann. Einmal nimmt einer der Aufständischen des Warschauer Ghettos Lanzmann in die Arme – der Filmer ist erschöpft von der Jagd nach den Tätern, die er wie ein Detektiv aufspürte und teils mit versteckter Kamera filmte. Und von all dem Unvorstellbaren, das ihm, oft zum ersten Mal überhaupt, anvertraut wurde. Alter Ego des Regisseurs ist in Ribots Dokumentation Simon Srebnik, einer von Lanzmanns Protagonisten und einer von zwei Menschen, die die Ermordung von 400.000 jüdischen Menschen per Gastlastwagen oder Erschießung im polnischen Chełmno überlebten. Srebnik hat die vernichtenden Ereignisse offensichtlich verdrängt: Kaum eine Regung zeigt er, als ihn Lanzmann 47 Jahre nach dem Mord an seinen Eltern und seiner eigenen nur knapp überlebten Exekution durch die SS nach Chełmno mitnimmt.
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Wieder und wieder lässt Claude Lanzmann, der viel mehr aktiv eingreifender Regisseur ist als gedacht, Srebnik dort in einem Holzboot auf dem Fluss Ner das Lied singen, das er beim Rudern einem SS-Mann vorsingen musste – und dessen Aufnahme die erste Szene in „Shoah“ bildet. Wieder und wieder klackt die Klappe, muss Srebnik neu ansetzen. Wacker erfüllt er seinen Auftrag. Und im Hinterkopf hallt das Lied mit den Durchhalteparolen der Arbeitsjuden, die in den KZs zur Mitwirkung bei der Vernichtungsarbeit gezwungen wurden. Zynischer kann man Zwang nicht als freudige Pflichterfüllung verbrämen. Szenen wie diese hat Guillaume Ribot aus Claude Lanzmanns Material geborgen. Verdienstvoll.
Termine: 18.2. 16 Uhr Akademie der Künste, 19.2. 21:30 Uhr Colosseum 1, 22.2. 15:30 Uhr HdBF.