Berlin. 75 Jahre, sieben Chefs und unzählige Filme, Stars und Fans: Ein Streifzug durch ein Dreivierteljahrhundert Festivalgeschichte.

Die Berlinale wird 75. Ein großes Ereignis, das eigentlich gebührend gefeiert werden müsste. Aber dafür bleibt kaum Zeit. Und das hat irgendwie auch Tradition bei dem Festival. Die 50. Berlinale im Jahr 2000 war die erste, die am neuen Potsdamer Platz veranstaltet wurde. Der Umzug und das neue Areal machte alles andere zur Nebensache.

Ein großes Jubiläum. Doch zum Feiern bleibt kaum Zeit

Die 75. ist nun die erste Ausgabe der neuen Intendantin Tricia Tuttle, die das Festival, das in den vergangenen fünf Jahren ein wenig an Bedeutung eingebüßt hat, wieder zu altem Glanz zurückführen soll. Und zugleich die Weichen für die nächsten Jahre stellen muss, wenn der Mietvertrag am Potsdamer Platz ausläuft – oder vielleicht doch verlängert wird. Da bleibt für eine Rückschau kaum Luft.

Aber so ein Dreivierteljahrhundert ist keine Selbstverständlichkeit. Schon gar nicht in Zeiten, in denen das Kino durch die zunehmende Streaming-Konkurrenz an Bedeutung und Wirkmacht verliert. Wie anders war das am 6. Juni 1951, als die allerersten Berliner Filmfestspiele im Titania-Palast eröffnet wurden! Eine ganze Stadt fieberte mit. „Steglitz stand Kopf. D.h. eigentlich stand es Schlange“, schrieb damals der „Telegraf“: „Die Polizei riegelte ganze Straßenzüge ab, als lägen hochentzündliche Minen in der Gegend. Das Publikum kam auf seine Kosten.“

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Berlin: Bummel der aegyptischen Filmschauspielerin Magda Kamel auf dem Ku'damm während der Berlinale '51
Bei der ersten Berlinale 1951 musste beim Bummel des ägyptischen Filmstars Magda Kamel die Polizei den Massenauflauf regeln. © picture alliance / ullstein bild | ullstein bild

Berlin, ein Sommermärchen. Dabei war der Krieg gerade mal sechs Jahre vorbei, die Wunden und Brachen in der Stadt noch allseits sichtbar. Die Luftbrücke lag erst drei Jahre, die Teilung in zwei deutsche Staaten zwei Jahre zurück. Die Völker der Welt schauten auf diese Stadt. Aber mit Angst vor einer neuen Blockade.

Ein Kind des Kalten Krieges, das zum Forum des Austauschs wurde

Was für ein Zeichen war es da, ein Internationales Filmfestival zu gründen. Wie Venedig (seit 1932) und Cannes (seit 1946). Diese Orte freilich können mit Meer und Jet-Set locken. Die Berlinale dagegen war das erste Festival in einer Großstadt. Ohne Strand. Dafür voller Narben.

Es war von Anfang an ein politisches Festival. Ein Kind des Kalten Kriegs. Gestern noch der Feind, war Deutschland nun ein Verbündeter gegen den „Ostblock“. Die Amerikaner stellten demonstrativ unter Beweis, dass sie die „Frontstadt“ in schwierigen Zeiten nicht allein ließen. Die Idee eines Filmfests als „Schaufenster der freien Welt“ kam von Oscar Martay, damaliger Filmoffizier beim US-Hochkommissar, und fiel auf fruchtbaren Boden bei Filmproduzenten, die seit der traumatischen Blockade der Stadt Angst um den Filmstandort Berlin hatten und ihn mit einer repräsentativen Kulturveranstaltung aufwerten wollten.

Filmfestspiele Berlin 1957
Nach seinem Wiederaufbau wurde der Zoo Palast 1957 zum Zentrum der Berlinale. © picture-alliance / picture-alliance/dpa | Bruechmann

Alfred Bauer: 1951–1976

Eigentlich war ja schon der Geschäftsführer der Spitzenorganisation der Berliner Filmwirtschaft, Oswald Camman, als Berlinale-Chef vorgesehen. Aber dann wurde es Alfred Bauer. Und blieb es 26 Jahre lang, mehr als jeder andere. Ein Jahre nach seinem Tod 1986 wurde ein Preis nach ihm benannt. Doch der wurde inzwischen abgeschafft.

Der erste Festivalleiter: Ein Problembär mit Nazi-Vergangenheit

Denn heute ist sein Name toxisch. Hatte er doch seine Nazi-Vergangenheit und seine Verstrickung in Goebbels‘ Propaganda-Apparat stets verschwiegen und kleingeredet. Er war eben nicht nur in der Reichsfilmkammer, sondern auch in der Reichfilmintendanz, dem zentralen NS-Organ zur Kontrolle des Filmwesens tätig.

Das wahre Ausmaß kam erst vor fünf Jahren, zur 70. Berlinale, heraus. Aber nicht etwa durch das Festival selbst. Auch nicht durch die Kinemathek, die zum 70. ein kleines Buch über den Berlinale-Gründer herausbringen wollte – und es in den Reißwolf stecken musste. Sondern durch einen Hobbyhistoriker, der das an die Wochenzeitung „Die Zeit“ weiterspielte. Das führte zu Schockwellen. Schon war von einer „braunen Berlinale“ die Rede. Bauer, der starke Mann der frühen Jahre, wurde posthum zum Problembären.

Shirley MacLaine kommt zur Berlinale
Berlinale-Chef Alfred Bauer holte Filmstars, wie hier Shirley MacLaine, persönlich vom Flughafen Tempelhof ab. © picture-alliance / dpa | Giehr

Die damals neue Berlinale-Führung war 2020 völlig überrumpelt, handelte aber klug und beauftragte zwei wissenschaftliche Studien, um die Causa Bauer zu durchleuchten. Anderthalb Jahre später konnte Entwarnung gegeben werden: „Von einer braunen Kontinuität der Berlinale kann nicht gesprochen werden“, hieß die Bilanz.

Bären gab es immer schon, aber anfangs nur als Publikumspreis

Vor einem Jahr, zur 74. Berlinale, kam die abschließende Studie „Kino im Zwielicht. Alfred Bauer, der Nationalsozialismus und die Berlinale“ vom Institut für Zeitgeschichte München heraus. Und belegte noch einmal, dass Bauers Rolle doch eher unerheblich gewesen sei. Über die die Alliierten, als anfängliche Schirmherren und Geldgeber des Festivals, darüber hinaus durchaus Bescheid wussten.

Dennoch liegt nun ein Schatten über den ersten Jahren der Berlinale. Die Berliner, die sie miterleben durften, dürften sie indes ganz anders in Erinnerung haben. Als die Zeit der großen Stars. Hollywood geizte nicht und schickte all seine Zugpferde aufs Festival. Auch vom deutschen Kino kam alles, was Rang und Namen hatte. Ein Gesellschaftsereignis. Und von Anfang an ein Publikumsfestival. Anfangs sogar nur das. Bären wurden zwar immer schon verliehen, waren aber zunächst Publikumspreise.

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1954 war das Jahr der „Busenwunder“: Sophia Loren, Yvonne de Carlo und Gina Lollobrigida (v.l.).
1954 war das Jahr der „Busenwunder“: Sophia Loren, Yvonne de Carlo und Gina Lollobrigida (v.l.). © Deutsche Kinemathek | Heinz Koester

Anfangs musste Bauer noch um das Festival kämpfen. Erst nach zwei Jahren wurde es zur festen Einrichtung. Und 1956 dann von der Internationalen Interessenvertretung der Filmproduzenten (FIAPF), zum A-Festival ernannt und in dieselbe Liga gehoben wie Cannes und Venedig. Die Bären wurden von nun an von einer Internationalen Jury verliehen. Und mit dem wiedereröffneten Zoo Palast bekam das Festival 1957 ein neues Zentrum in der City-West.

„Berlinale“: Ein Spitzname, den das Festival lange nicht gerne hörte

In den ersten Jahren war das Festival noch weit schlanker als heute. Neben dem Wettbewerb gab es nur die „Info-Show“ (ein Vorläufer des Panoramas) und die Retrospektive. Wenn der durchsetzungsstarke Berlinale-Chef Bauer eine Politik verfolgte, dann anfangs eher die, unpolitisch zu sein. Stars und Glamour zu bieten.

Das Wort Berlinale, das die Kabarettistin Tatjana Sais gleich im ersten Jahr erfunden hatte, konnte er nicht ausstehen. Es war ihm zu sehr „Jargon“. Wohl auch zu klein-klein. Ihm ging es um Größeres. Und wirklich war es Berlin, und nicht etwa Cannes, wo die Nouvelle Vague ihre ersten Erfolge feierte. Und von dem aus das junge, neue Kino in die Welt strahlte.

Eklat bei der Berlinale 1970 - Rücktritt der Jury
Wegen des Skandals um „o.k.“ trat 1970 die Jury zurück. Alfred Bauer (2.v.r.) machte dabei eine schlechte Figur. © picture-alliance/ dpa | Chris Hoffmann

Manche Gäste standen trotzig, aber vielleicht auch mit mulmigem Gefühl vor dem Brandenburger Tor. Erst recht nach dem Schock des Mauerbaus im August 1961, nur zwei Wochen nach der 11. Berlinale. Die Amerikaner standen aber weiter fest zu West-Berlin. Im Tauwetter von Willy Brandts neuer Ostpolitik liefen dann auch erste Filme aus der Sowjetunion (ab 1974) und der DDR (ab 1975). Eine vorsichtige Annäherung, bei der sich das Festival als Forum des Austauschs profilieren konnte.

1970 war das einzige Jahr, in dem keine Bären verliehen wurden

Die Studentenunruhen 1968 überstand das Festival unbeschadet, im Gegensatz zu jenem in Cannes, das nach Tumulten abgebrochen wurde. Ihren ersten handfesten Eklat erlebte die Berlinale zwei Jahre später, 1970, als Jurypräsident George Stevens sich von Michael Verhoevens vietnamkriegs-kritischen Film „o.k.“ als Amerikaner beleidigt fühlte und den Film verbieten wollte. Ein klarer Verstoß gegen die Festivalstatuten. Woraufhin andere Regisseure aus Solidarität ihre Filme zurückzogen, der Zoo Palast besetzt wurde und die Jury zurücktrat.

Es war die einzige Berlinale, auf der keine Preise verliehen wurden. Als Konsequenz daraus wurde das Internationale Forum des Jungen Films gegründet, als eine Art Gegenfestival. Bauer, der schon vielfach in der Kritik stand wegen seiner rigiden Art, wie er das Festival leitete, hatte in der ganzen Affäre keine gute Figur gemacht. War fortan angezählt. Und musste 1976, als er das Rentenalter erreichte, abtreten.

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Wolf Donner verlegte die Berlinale in den Winter. Von da an musste man sich warm anziehen.  Der Berlinaleshop leistete Hilfe.
Wolf Donner verlegte die Berlinale in den Winter. Von da an musste man sich warm anziehen. Der Berlinaleshop leistete Hilfe. © Deutsche Kinemathek | Erika Rabau

Wolf Donner: 1977–1979

Ein Komitee sollte einen Nachfolger bestimmen. Weil aber keiner gefunden werden konnte, wurde es der Vorsitzende Wolf Donner selbst. Das sollte sich Jahre später wiederholen, als es um die Nachfolge von Dieter Kosslick ging und Mariette Rissenbeek in dem Ausschuss saß, der den neuen Geschäftsführer des Festivals bestimmen sollte – und diese Position am Ende selbst bekleidete.

Donner verlegte die Berlinale vom Sommer in den eisigen Winter

Donner war von Hause aus Filmkritiker und leitete das Festival nur ganze drei Jahre. Die kürzeste Ära des Festivals. Gern wird ihm vorgeworfen, sein einziges Verdienst sei es gewesen, die Berlinale vom schönen Sommer in den eisigen Winter verlegt zu haben. Noch heute schwärmen Veteranen davon, wie schön es früher war, und argwöhnen, warum es nicht wieder so sein kann.

Die Sommer-Berlinale 2021, eine einmalige Ausnahme wegen der Pandemie, gab davon noch mal einen Nachgeschmack. Aber die Verlegung war 1977 nötig, um im zunehmenden Konkurrenzdruck zwischen Cannes (Anfang Mai) und Venedig (Ende August) relevante Filme zu gewinnen. Donner ging mit der Verlegung ein großes Wagnis ein, sollte aber reüssieren.

Moritz de Hadeln (l.) 1982 mit Rainer Werner Fassbinder, Rosel Zech und James Stewart (v.l.).
Moritz de Hadeln (l.) 1982 mit Rainer Werner Fassbinder, Rosel Zech und James Stewart (v.l.). © Internationale Filmfestspiele Berlin | berlinale

Die Verlegung in die graue Zeit war durchaus nicht seine einzige Novität. Donner krempelte das Festival um, befreite es vom alten Muff und zielte auf ein politisch engagiertes Festival. Er führte neue Sektionen ein wie die Reihe Deutscher Film oder das Kinderfilmfestival, dem Vorgänger der heutigen Sparte Generation.

Fortan sollte die Berlinale nicht mehr nur Glamour-Happening sein, sondern auch ein Arbeitsfestival, wofür er die Berliner Filmmesse, dem Vorläufer des European Film Market, enger an die Berlinale führte. Und weil er unerschütterlich an die Berlinale als Publikumsfestival glaubte, baute er den Zugang für die Öffentlichkeit immer weiter aus.

Zwei Skandale erschütterten in den 70er-Jahren die Berlinale

Donner war ein radikaler Reformer. Aber obwohl er viel erreichte, gab er nach nur drei Jahren auf. „Er mochte es nicht, den dicken Maxen zu spielen oder den Conférencier zu geben“, erinnert sich die Filmemacherin Jeanine Meerapfel. „Er hat es getan, aber gefallen hat es ihm nicht.“ Daran hatte wohl auch der zweite große Skandal des Festivals seinen Anteil, eine seltsame Spiegelung des „o.k.“-Skandals.

1979 sah diesmal die Sowjetunion in dem US-amerikanischen Kriegsfilm „The Deer Hunter – Die durch die Hölle gingen“ eine Beleidigung des vietnamesischen Volkes und zog unter Protest ihre Filme zurück, die Bruderländer des Warschauer Paktes folgten, zwei Juroren reisten ab. Das Festival ging weiter, aber der Schaden war groß. Und Donner warf hin.

Germany Berlinale Film Festival
Die corona-bedingte Sommer-Berlinale 2021 zeigte noch mal, wie schon das Festival im Sommer wäre. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | STEFANIE LOOS

Moritz de Hadeln: 1980–2001

Den Flurschaden sollte noch sein Nachfolger zu spüren bekommen: der Brite Moritz de Hadeln, der bis dahin das Filmfestival von Locarno geleitet hatte. Ausgerechnet die amerikanischen Studios, die die Berlinale immer unterstützt hatten, zögerten fortan und stellten ihre Filme lieber in Cannes und Venedig vor, wo mehr Wert auf Glamour gelegt wurde. Während selbst deutsche Filmemacher wie Helke Sander-Brahms klagten, dass die Berlinale „auf dem Weg zu einem Pullover-Festival“ war.

Ein Kosmopolit fördert den kulturellen Austausch zwischen den Systemen

Den Star-Schwund glich de Hadeln aus mit neuen Preisen wie der Berlinale-Kamera und vor allem dem Goldenen Ehrenbären für ein Lebenswerk. Er baute zudem die „Info-Schau“ zum Panorama aus, wo internationale Produktionen nun auch ohne Bären-Konkurrenzdruck gezeigt werden konnten. Seine Hauptaufgabe sah der Kosmopolit aber darin, den kulturellen Austausch zwischen den Systemen zu fördern.

1987 erreichte Gorbatschows Glasnost-Politik die Berlinale, als de Hadeln gleich drei sowjetische Filme in den Wettbewerb hob. Und er öffnete das Festival noch weiter Richtung Osten und entdeckte, wohl seine größte Leistung, das neue chinesische Kino, die sogenannte Fünfte Generation, für das Weltkino, als 1988 Zhang Yimous „Das rote Kornfeld“ den Goldenen Bären gewann.

Berlinale-Eröffnung am Potsdamer Platz in Berlin
Seit dem Jahr 2000 das neue Zentrum des Festivals: der Berlinale-Palast am Potsdamer Platz. © picture-alliance / dpa | Michael Hanschke

Die größte Zäsur des Filmfestivals setzte dann der Mauerfall 1989. Schon davor hatte es Überlegungen gegeben, wie man die Berlinale auch auf Ost-Berlin erweitern konnte. Das ergab sich nun von selbst. Nur vier Monate später posierten die Hollywoodstars Julia Roberts und Sally Field mit DDR-Grenzsoldaten auf der Mauer.

Nach dem Mauerfall: Zwei Stadthälften wachsen zusammen

Wurden Filme im Westen wie im Osten der Stadt gezeigt. Erlebten auch verbotene Defa-Klassiker aus dem Giftschrank ihre späte Uraufführung. Und bekamen gleich zwei deutsche Filme Silberbären, einer aus dem Westen („Das schreckliche Mädchen“ von Verhoeven) und einer aus dem Osten (Heiner Carows „Coming Out“). Die Wiedervereinigung, auf dem Festival war sie schon vorweggenommen.

Als deren Konsequenz sollte die Berlinale schließlich in die neue Mitte der zusammengewachsenen Stadt ziehen, an den Potsdamer Platz mit seinen neuen Multiplexkinos. Den Umzug dahin und die erste Berlinale dort im Jahr 2000 durfte de Hadeln noch organisieren. Doch für das neue Jahrtausend und den neuen Standort wollte man eine neue Vision. De Hadeln war sicher ein schwieriger Charakter, immer wieder stand er auch in der Kritik, gerade wegen seines Umgangs mit deutschen Regisseuren, die einmal sogar mit Boykott gedroht hatten. Aber die Art, wie der Chef nach immerhin 21 Jahren, abserviert wurde, war würdelos.

Germany Berlinale Film Festival
Ein Coup: Zur Eröffnung 2008 kam nicht nur Regisseur Martin Scorsese (2.v.r.), sondern auch die Rolling Stones. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Miguel Villagran

Dieter Kosslick: 2002–2019

Auftritt des Schwaben Dieter Kosslick, dem langjährigen Chef der Filmstiftung NRW. Mit seinen Markenzeichen Hut und roter Mantel, seiner warmherzigen Art und seinem Pidgin-Englisch hob er sich deutlich von seinen Vorgängern ab und sorgte als „Mister Berlinale“ weithin für gute Laune.

Das Festival, eine Krake, die sich über die ganze Stadt ausbreitet

Und auch er setzte neue Maßstäbe. Vor allem versöhnte er den deutschen Film, das mit de Hadeln immer auf Kriegsfuß gestanden hatte, mit dem Festival. Gleich in seiner ersten Ausgabe 2002 gab es vier deutsche Beiträge im Wettbewerb, 2004 für Fatih Akins „Gegen die Wand“ das erste Mal seit 1986, wieder einen Goldenen Bären für eine deutsche Produktion. Und im Jahr darauf gleich drei Silberne Bären für deutsche Schauspieler. Das hatte Signalwirkung.

Außerdem baute Kosslick das Filmfestival kühn zu einem Stadtfestival aus. Nicht nur mit neuen Sektionen, wie Berlinale Special oder Perspektive Deutsches Kino, auch mit dem Talent-Campus, in dem Filmemacher dem Filmnachwuchs Lektionen gaben, mit Forum Expanded, mit dem auch die Kunstwelt eingebunden wurde, oder dem Kulinarischen Kino, Kosslicks persönlichen Vorliebe.

Berlinale 2002 / BAP
Berlinale-Chef Dieter Kosslick rockt 2002 mit BAP-Chef Wolfgang Niedecken. © picture-alliance / SCHROE' WIG/Norbert Kesten | SCHROEWIG/Norbert Kesten

Ihm gelang der Coup, den Friedrichstadt-Palast als neues Berlinale-Kino zu gewinnen. Und mit den Kiez-Kinos rollte er den roten Teppich auch quer über die Stadt hin aus. Immer wieder wurde dafür das Bild von der Berlinale-Krake bemüht. Kosslick gewann mehr Publikum und auch neue Berlinale-Fans, indem er beherzt den letzten Tag des Festivals strich und daraus einen Publikumstag machte (was sich auch finanziell lohnte).

Eine Reihe von Filmregisseuren diskreditiert Kosslick international

Die neue XXL-Berlinale passte in die Aufbruchstimmung des neuen Millenniums. Aber so unbestritten seine Neuerungen im Festivalgefüge waren und so sehr er als Entertainer glänzte: Sein Festival wurde dabei immer unübersichtlicher und verlor an Profil. Und bei der Auswahl seines Programms bewies er nicht immer ein glückliches Händchen. Filme mussten nicht zwingend gut sein, gut gemeint reichte oft. Hauptsache, sie hatten ein brisantes Thema. Sorgten für Diskussionen. Und für den einen oder andren Star auf dem Teppich.

Dass Kosslick dann aber ausgerechnet von deutschen Filmemachern, die er nachhaltig gefördert hatte, in einem Offenen Brief 2017 vor aller Welt diskreditiert und eine Neuaufstellung des Festivals verlangt wurde, hat ihn tief getroffen. Eine einmalige Intrige, im weltweiten Festivalbetrieb. Fortan war er angezählt. Und wurde schon bald und recht hartherzig abgesetzt. Ganz wie sein Vorgänger de Hadeln.

65. Berlinale - Preisverleihung
Stellvertretend für Jafar Panahi, der nicht ausreisen durfte, nahm 2015 seine kleine Nichte seinen Goldenen Bären entgegen. © picture alliance / dpa | Michael Kappeler

Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian: 2020–2024

Wer hat nach zwei solch brutalen Demissionen noch Lust, einen solchen Job zu machen? Man fand einen Nachfolger in Carlo Chatrian, der bis dahin, wie einst de Hadeln, das Festival in Locarno leitete. Er soll aber keinesfalls erste Wahl gewesen sein. Und er wollte auch nur fürs Kuratieren des Filmprogramms und nicht für den restlichen Apparat verantwortlich sein.

Das hätte den Entscheidern eine Warnung sein müssen. Stattdessen suchte man das Heil in der ersten Doppelspitze der Festivalgeschichte, mit einem Programmleiter und einem Geschäftsführer. Für letzteres wurde dann, weil offenbar keiner den Job wollte, Mariette Rissenbeek überredet.

Kurz vor Chatrians erster Berlinale platzte die Bauer-Bombe

Ob die beiden wirklich nicht miteinander konnten, wie immer wieder gemunkelt wurde, oder doch, wie sie immer wieder behaupteten: Nach dem Entertainer Dieter Kosslick standen da gleich zwei Menschen auf der Bühne, die sich da sichtlich unwohl zu fühlen schienen. Das Führungsduo war aber auch vom Pech verfolgt. Nicht nur, weil pünktlich zu ihrer ersten Berlinale-Pressekonferenz die Bombe der Causa Alfred Bauer platzte. Sondern auch, weil sie eine Krise nach der nächsten bewältigen mussten.

Ihre erste Berlinale konnte gerade noch beendet werden, kurz darauf fuhr die Welt wegen der Corona-Pandemie in den Lockdown. Die Berlinale 2021 musste deshalb aufgesplittet werden in ein digitales Arbeits-Festival im Winter und ein Publikums-Happening im Sommer. Auch die nächsten Berlinalen konnten nur unter strengen Beschränkungen und Sicherheitsvorkehrungen stattfinden. Und dann strafte der Bund als Hauptgeldgeber das Festival mit Budgetkürzungen ab, bei gleichzeitig immens steigenden Kosten.

Verleihung Goldener Ehrenbär an Martin Scorsese, Berlinale 2024
Ein Coup: 2024 geht der Ehrenbär an Martin Scorsese, Wim Wenders hält die Laudatio. © picture alliance / Geisler-Fotopress | Nicole Kubelka/Geisler-Fotopress

Die Geschäftsführerin hat das so gut wie möglich auszugleichen versucht. Den Programmleiter schien das dagegen alles nicht zu tangieren. Er kam nie wirklich an in der Stadt. Wie im Elfenbeinturm interessierte er sich nicht mal für die Nöte der Kinobetreiber in der Corona-Krise. Und kuratierte einfach ein sehr spezielles Kunstkino, für das er noch einen zweiten Wettbewerb, „Encounters“ einführte. Mit Filmen, die so eigentlich schon im Forum liefen und nun zur Konkurrenz im eigenen Betrieb wurden.

Chatrians letzte Berlinale begann und endete mit einem Eklat

Rissenbeek hatte schon früh bekannt gegeben, dass sie altersbedingt nach einer Amtszeit aussteigen werde. Aber Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) gab dann auch Chatrian rüde zu verstehen, dass er künftig nicht mehr als Chef, sondern nur noch in untergeordneter Rolle agieren werde. Weshalb auch er das Handtuch warf. Die zweitkürzeste Ära der Berlinale. Der Chefsessel scheint mehr denn je ein Schleudersitz. Das letzte Festival der beiden 2024 war das Einzige, das mal unter normalen Umständen stattfand.

Aber es begann mit einem Aufreger, als fünf AfD-Politiker erst ein- und dann wieder ausgeladen wurden. Und es endete mit einem Eklat, als bei der Preisverleihung einige Gewinner in ihren Dankesreden Solidarität mit Palästina bekundeten und Israel für seine Gaza-Politik kritisierten. Worauf eine scharfe Debatte einsetzte und die Berlinale-Leitung a.D. sich sogar vor dem Kulturausschuss verantworten musste.

Preisverleihung, Berlinale 2024
Auf der letzten Berlinale von Mariette Rissenbeek (l.) und Carlo Chatrian kam es bei der Preisverleihung zum Eklat. © picture alliance / Geisler-Fotopress | Nicole Kubelka/Geisler-Fotopress

Ausblick: Tricia Tuttle

Und wieder musste man fragen: Wer mag dieses Festival eigentlich noch leiten? Wer einen solch angezählten Posten übernehmen? Wo die Doppelspitze gleich wieder zurückgenommen wurde und der künftige Chef, nunmehr Intendant genannt, auch wieder alles Organisatorische und Pekuniäre übernehmen muss?

Die Amerikanerin Tricia Tuttle, die zuvor das BFI London Film Festival, das größte seiner Art in Großbritannien, leitete, hat mutig übernommen. Sie ist die erste Frau ganz allein an der Spitze, das hat es bei den drei größten A-Festivals bislang noch nicht gegeben. Und alle schauen jetzt gespannt, wie ihre erste Berlinale verlaufen wird. Schon bei ihrer Vorstellung im Dezember 2023 machte sie eine gute Figur. Und zeigte mehr Gestaltungswillen als Chatrian in fünf Jahren. Erst recht vor drei Wochen, als sie ihr erstes Programm vorstellte.

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Die neue Intendatin Tricia Tuttle muss die Berlinale nun aus der Krise führen.
Die neue Intendatin Tricia Tuttle muss die Berlinale nun aus der Krise führen. © AFP | VINCENT KOLBE

Der Eklat vom Vorjahr habe dazu geführt, dass manche Filmemacher Bedenken haben, ob sie einen Film auf der Berlinale zeigen sollen, gibt Tuttle zu. Sie habe aber dennoch das Programm zusammenstellen können, das sie haben wollte. Namhafte Regisseure sind nur wenige vertreten, das mag noch eine Folge der Debatte sein.

Die Gästeliste kann sich dennoch sehen lassen. Aber am Ende muss immer beides stimmen: der Teppich und die Filme. Man muss Tricia Tuttle die Daumen drücken. Berlin ist ein hartes Pflaster. Aber, das haben noch alle Festivalleiter gesagt: Die Berlinale zu leiten, ist einer der aufregendsten Jobs.