Berlin. Das eigentliche Highlight findet nicht im Kinosaal statt, sondern davor. Was Zuschauer am roten Teppich dieses Jahr erwartet.
Auf der Berlinale, behaupten manche, gehe es vor allem um Filme. Das ist natürlich Unsinn. Oder allenfalls Nebensache. Denn für elf Tage Kino hat die überwiegende Mehrheit der Berliner gar keine Zeit. Und die heiß begehrten Tickets sind ja auch meist im Nu weg.
Bibbern in der Kälte. Für ein Lächeln. Oder ein Selfie mit Star
Das große Kino aber gibt’s nicht im Saal, sondern davor. Und darauf kann dann jeder einen Blick werfen. Die Rede ist, natürlich, vom Roten Teppich. Wer kommt da alles? Mit wem? Und vor allem: Wie? Da kann man schon mal Zaungast spielen. Und so drängeln sich alljährlich die Massen, um zumindest einen Blick zu erhaschen.
Das Lächeln eines Stars. Vielleicht sogar ein Autogramm – obwohl, altmodisch. Das tun meist nur noch berechnende Cineasten, die das dann später im Internet meistbietend verhökern. Aber dafür ein Selfie: The Star and me.
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Die Lust am Schaulaufen, sie gehört zu jedem großen Festival. Aber wer zur Berlinale kommt, der darf sich als wahrer, unerschrockener Hardliner verstehen. Denn Cannes und Venedig, die anderen beiden großen A-Festivals, die haben Meer und Palmen, vor allem aber haben sie warmes Wetter. Während man sich auf der Berlinale warm anziehen muss und gern bei Minusgraden und auch mal bei Schnöselwetter ausharren muss.
Das freilich hat der Zaungast mit den Stars gemein, und schon das Schlottern verbindet. Die Stars geben dann für Minuten ihre Mäntel ab. Die Herren der Schöpfung stehen dann immer noch im Anzug da, die Frauen dagegen oft schulterfrei. Und lächeln tapfer für die Fotografen. Vielleicht gefriert ihnen das Lächeln auch nur. Aber es ist Teil des Jobs. Kein Wunder, dass Erkältungen zu diesem Festival dazugehören wie der Abspann beim Film.
Aber die Berliner, sie lieben die Stars dafür. Das war schon anno dunnemals so, als die Berlinale ins Leben gerufen wurde. Und die ganze Chose auch noch im Sommer stattfand. 1951 drängelten sich die Neugierigen vor dem Titania Palast, dem ersten Festivalzentrum, und brachten den Verkehr zum Erliegen. Wenn internationale Stars dann mal über den Ku’damm flanierten, gab es im Nu Massenaufläufe, die von Verkehrspolizisten reguliert werden mussten.
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Für Aufsehen sorgen, ein Bad in der Menge nehmen: Das ist übrigens keine neumodische Erfindung. Unvergessen das Treffen der „Busenwunder“ Gina Lollobrigida, Sophia Loren und Yvonne de Carlo 1954. Oder Jayne Mansfield, die sich 1961 auf Händen tragen ließ. Eine astreine Hebefigur, lange vor „Dirty Dancing“.
Auf der Richterskala ganz oben: Bai Ling, die „Berlinackte“
Wer kommt, und was trägt er oder sie? Klassisch elegant oder schräg daneben? Oder gar nichts? Immer wieder gibt es Geschmacksverirrungen, über die man dann höflich hinwegsieht. Immer wieder aber auch aufreizende Outfits. Kristen Stewart etwa, vor zwei Jahren die jüngste Jurypräsidentin der Festivalgeschichte, kam zur Abschlussveranstaltung in einem aufreizenden Hauch von Nichts. Die ganze Berlinale über hatte sie schon eigenwillige modische Statements gesetzt.
Auf der Richterskala der höchsten Teppicherschütterungen steht aber Bai Ling an einsamer Spitze: Die chinesische Schauspielerin war vor 20 Jahren in der Jury und glänzte mit immer weniger Bekleidung. Wie sie das machte, verriet sie uns im Interview. Im Hyatt Hotel hatte sie die Heizung immer auf den höchsten Grad eingestellt (aus heutiger öko-energetischer Sicht eine verheerende Bilanz). Sauna mit Eisbad sozusagen. Sie war das Teppichluder der Berlinale. Und die Berliner Schnauze hatte denn auch schnell einen Spitznamen parat: Sie war nur noch die „Berlinackte“. Aber plötzlich kannte man sie weltweit.
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Berühmt ist Tilda Swinton, ein Dauergast der Berlinale, der immer wieder mit neuen, verblüffenden Kreationen oder auch mal im Herrenanzug für Lichtblicke sorgt. Den Ehrenbären in diesem Jahr soll sie trotzdem nicht nur deshalb, sondern auch wegen ihrer Filme bekommen. Aber für einen Farbtupfer ist damit verlässlich gesorgt.
Lars von Trier kam mit dem T-Shirt „Persona non grata“
Herausstechende Abendgarderobe ist aber nicht nur Frauensache. Männer können das auch. Rosa von Praunheim etwa kam als Paradiesvogel vom Dienst jahrelang mit immer neuen und immer ausladenderen Kopfbedeckungen. Und hob sich dankbar von den klassischen „Pinguinen“ ab. Darüber freute sich jeder. Nur diejenigen nicht, die im Kino dann hinter ihm saßen.
Lars Eidinger, der 2022 als Laudator für Ehrenpreisträgerin Isabelle Huppert in einem überlangen, hauchdünnen, schwarzen harlekin-artigen Anzug kam. Bei dem Berliner Schauspieler ist einfach alles XXL. Man kann aber auch anders hervorstechen: Weil Shia LaBoeuf bei der Pressekonferenz Unsinn geredet hatte, zog er sich abends für den Teppich einfach eine Papiertüte über den Kopf: mit Löchern für die Augen, und dem Schriftzug „I am not famous anymore“. Ich bin nicht mehr berühmt.
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Selbstironisch präsentierte sich auch der dänische Skandalregisseur Lars von Trier. Nachdem Cannes ihn 2011 wegen seiner provozierenden Äußerungen über Hitler zur unerwünschten Person ernannte, trug er auf der Berlinale ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Persona non grata“. Merke: Es muss nicht immer Tüll sein. Man kann auch anders auf sich aufmerksam machen.
Der rote Teppich: Auch eine Bühne für politische Demonstrationen
Das sagen sich freilich nicht nur die Stars. Der Teppich wird immer wieder auch von anderen als öffentliche Bühne genutzt. Nicht umsonst versteht sich die Berlinale als dezidiert politisches Festival. Da protestiert schon mal die Jury und die Berlinale-Leitung geschlossen für einen iranischen Regisseur wie Jafar Panahi, der nicht ausreisen durfte, oder solidarisiert sich mit der iranischen „Frau Leben Freiheit“-Protestbewegung.
Kinobeschäftigte nutzten das Festival aber auch schon mal, um auf ihre schlechte Besoldung hinzuweisen. Oder Studierende, um auf die Kürzungen im Bildungssektor hinzuweisen. Die zogen dafür 2004 blank, in bester Flitzer-Manier wie in den 70er-Jahren. Aber eben bei bitterlich kalten Graden. Dafür muss man schon Respekt zollen. Und das Festival hat einen Hingucker. Und auch mal wieder ein Skandälchen, über das alle reden.
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Auf der Berlinale kann man die unnahbaren Stars dann aber nicht nur zum Anfassen nah erleben, sondern auch ganz emotional. Selbst alte Hasen und Routiniers können mal die Fassung verlieren, wenn sie den Ehrenbären für ihr Lebenswerk erhalten. Da flennt der taffe Martin Scorsese 2024 auf offener Bühne oder Steven Spielberg freut sich 2023 wie ein Kind und legt ein Tänzchen hin.
Die Ehrenbär-Verleihung: Das Nonplusultra der Emotionen
Der Ehrenbär ist überhaupt das Nonplusultra der Emotionen. Unvergessen, als Kirk Douglas 2001 den Ehrenpreis erhielt. Nach einem schweren Schlaganfall hatte er sich mühsam das Sprechen wieder beibringen müssen. Die Berlinale war sein erster öffentlicher Auftritt, und dann sprach er, zwar noch mit schwerer Zunge zwar, aber ganz bewegend von diesem Kampf zurück. Und überraschte dann auch noch mit gutem Deutsch, weil er der Sohn jüdischer Auswanderer war.
Auf dem Festival kann man Stars ganz ungefiltert, ganz direkt erleben. Aber auch mal von ihrer anderen Seite. Catherine Deneuve etwa machte ihrem Ruf als Diva alle Ehre, als sie, Ehrenpreisträgerin 1998, sämtliche Fotografen und Journalisten 40 Minuten warten ließ, weil sie erst backstage noch einen Espresso trinken wollte. Als sie dann doch noch gnädig auf die Bühne kam, wurde sie nicht mit Ovationen, sondern mit Buhrufen begrüßt.
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Shirley MacLaine versetzte ein Jahr später die gesamte Security in Angst und Schrecken, weil sie für Stunden verschwunden war. Bis sie dann endlich wieder im Hotel Kempinski aufschlug. Lächelnd und mit KaDeWe-Tüten. Sie war einfach ausgebüxt. Auch Stars wollen mal shoppen gehen. Und ausgerechnet der immer so smarte, allseits beliebte George Clooney zeigte sich in Berlin auch mal von einer höchst ruppigen Sorte.
Mit den Stars seines „Monument Men“-Films tanzte er 2014 zwar Ringelpiez, 2016 aber wurde er auf der Pressekonferenz ausfällig, als man ihm vorwarf, er würde sich nicht genug sozial engagieren. Und schon 2003 hatte er einen Journalisten, der seinen Film „Solaris“ langweilig fand, als „Idioten“ beschimpft. Auf so einem Festival liegen die Nerven schon mal blank.
Manchmal kann so ein Star ein Festival auch fast zum Erliegen bringen. Im Jahr 2000 war das so, als Leonardo DiCaprio, kurz nach „Titanic“, am frisch eröffneten Potsdamer Platz aufschlug. Die Pressekonferenz fand in jenem Jahr noch im Keller des Berlinale-Palastes statt. Und bald kam da keiner mehr rein und keiner mehr raus. Fast wäre Panik ausgebrochen. Und selten drängten auch draußen mehr Zaungäste.
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Manchmal weiß das Festival auch gar nicht, wohin mit all den Stars. Da muss der Berliner sich entscheiden, wo er bibbern will. 2012 etwa kamen Brangelina, also Angelina Jolie und Brad Pitt, ins Haus der Berliner Festspiele, während Shah Rukh Khan, der König von Bollywood, im Friedrichstadtpalast Hof hielt. Solche Showduelle freilich sind die absolute Ausnahme.
Die Angst, dass Stars in letzter Minute unnett absagen
Manchmal glänzen Stars auch durch Abwesenheit. Das musste Dieter Kosslick 2002 gleich auf seiner zweiten Berlinale erleben, als er für den Eröffnungsfilm „Cold Mountain“ ganz allein auf dem Teppich stand. Miramax-Chef Harvey Weinstein hatte alle seine Stars zurückbehalten, die kamen kleinlaut erst ein paar Tage später. Es war der Tiefpunkt, nicht nur für den Berlinale-Chef, sondern für das ganze Festival.
Die Angst, dass nicht genug Stars kommen oder unnett in letzter Sekunde absagen, die gibt es jedes Jahr. Deshalb, das ist die ganze Wahrheit, werden immer auch mal Filme eingeladen, die nicht unbedingt überzeugen. Aber eben mit einem Star glänzen. Denn ohne die, das muss jedem klar sein, der so ein Festival leitet, geht nix.
Die Berlinale, das ist ein kalter Teppich. Und doch ein heißes Pflaster.