Berlin. Kultregisseur Todd Haynes ist der Präsident der Internationalen Jury, die über die Bären entscheidet. Eine ausgesprochen gute Wahl.

Tricia Tuttle ist ein Fan. Das gibt die neue Berlinale-Leiterin gern und offen zu. Vor Jahren hat sie ihre Abschlussarbeit in Filmwissenschaften über den amerikanischen Filmemacher Todd Haynes (64) geschrieben. Es ist also durchaus folgerichtig, dass die 54-Jährige nun für ihre erste Berlinale-Ausgabe ihn als Präsidenten der Internationalen Wettbewerbsjury auserkoren hat.

Hinter der Entscheidung steckt indes weit mehr als nur persönlicher Geschmack. „Wir wollten zur 75. Berlinale Künstler einbinden, die eine langjährige Beziehung zum Festival haben“, sagt Tuttle. Wie Tilda Swinton, die den Ehrenbären erhält. Wie der Berliner Tom Tykwer, der mit „Das Licht“ am Donnerstag das Festival eröffnet. Haynes zeigte hier 1991 seinen ersten Langfilm „Poison“ und gewann damit gleich den Teddy Award, den queeren Filmpreis der Berlinale.

Berlinale 2025: Eine Kurskorrektur nach den fragwürdigen Preisen vom Vorjahr

Ohnehin darf die Wahl eines versierten Filmemachers mit künstlerischer und gesellschaftspolitischer Haltung an der Spitze der Jury, die über die Hauptpreise des Festivals entscheidet, als Kurskorrektur verstanden werden nach den teils fragwürdigen Preisen im vergangenen Jahr durch die von Hollywoodstar Lupita Nyong’o geleitete Jury. Es ist auch ein klares Zeichen an die US-Filmbranche, die sich zuletzt eher Richtung Cannes und Venedig orientiert hat.

Auch wenn Haynes mit Filmen wie „Dem Himmel so fern“, „Carol“ und zuletzt „May December“ eher für das unabhängige Autorenkino steht, denn für das Hollywoodstudiosystem. Haynes vereint filmhistorisches Fachwissen und Geschmack und ist im Diskurs geschult, kann klug und reflektiert argumentieren. Seine Besetzung ist ein Gewinn für diese Jubiläumsausgabe.

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Erste Amateurfilme dreht der 1961 in Los Angeles geborene Haynes bereits als Kind, nachdem er mit „Mary Poppins“ und Julie Andrews das Kino für sich entdeckt hatte. Später studiert er Kunst und Semiotik an der renommierten Brown University in Rhode Island, zieht nach New York, wo er beginnt, Experimentalfilme zu drehen.

Aufgewachsen in der Gegenkultur der 1970er Jahre, stellt er amerikanische Mythen gerne auf den Kopf, seziert künstlerische, soziale und sexuelle Konventionen und Identitäten. Immer wieder widmete er sich mit akribischer Lust Künstlerfiguren des 19. und 20. Jahrhunderts, von Jean Genet bis Lour Reed.

Ein Bob-Dylan-Film mit sechs Inkarnationen

1998 entsteht „Velvet Goldmine“ ein lose an David Bowies „Ziggy Stardust“-Glam Rock-Phase angelehnter Film, der mit Mythen und schillernden Phänomenen spielt und gerade durch die Künstlichkeit wahrhaftiger wirkt als konventionelle Musikerbiografien. Bereits 1987 hat Haynes seinen kontroversen Kurzfilm „Superstar: The Karen Carpenter Story“ über die an Magersucht verstorbene Sängerin komplett mit Barbiepuppen inszeniert.

Und 2007 porträtierte er in „I’m Not There“ den Singersongwriter und späteren Nobelpreisträger Bob Dylan gleich in sechs Inkarnationen, gespielt von Christian Bale, Heath Ledger und, in einer androgynen Variante, Cate Blanchett. Damit kommt er dem Mysterium Dylan näher als das auf dieser Berlinale gezeigte Biopic „A Complete Unknown“ mit Timothée Chalamet.

Kinostarts - I'm Not There
Mit „I‘m Not There“ hat Haynes 2000 einen sehr ungewöhnlichen Film über Bob Dylan gedreht. Der wurde von gleich sechs Stars gespielt, darunter auch von einer Frau: Cate Blanchett (M.). © picture-alliance/ dpa | Tobis Filmverleih

Vor allem aber rückt der 64-Jährige weibliche Figuren in den Fokus, unter den Regisseuren der Gegenwart allenfalls vergleichbar mit Pedro Almodóvar. Dabei sind Haynes‘ Vorbilder zwei legendäre Filmemacher aus Deutschland: der gebürtige Hamburger Douglas Sirk und Rainer Werner Fassbinder und wie sie im Melodram, dem vermeintlichen Frauengenre, soziale Themen verarbeiteten.

Mit „Dem Himmel so fern“ schuf Haynes eine hinreißende Neuinterpretation von Sirks „Was der Himmel erlaubt“ und Fassbinders „Angst essen Seele auf“. Für ihn seien Frauen interessanter, „um die Gesellschaft und ihre Konventionen zu hinterfragen, weil ihre Situation komplexer ist. Auch heute noch, trotz der Fortschritte, die seit den 50er Jahren gemacht werden konnten.“

Als Frauenfilmer bezeichnet zu werden, versteht er als Kompliment

Dabei führt Haynes seine Schauspielerinnen nicht einfach, sie verkörpern die Filme, er wählt sie als Mitschöpferinnen aus, auch ihrer Persona wegen. Ob Julianne Moore, die er inzwischen sechsmal besetzt hat, Natalie Portman oder Kate Winslet in der Miniserie „Mildred Pierce“. Als Frauenfilmer bezeichnet zu werden, versteht er dabei durchaus als Kompliment.

„Heutzutage ist wahrscheinlich jeder Regisseur, schon etwas Besonderes, der männliche Jugendliche mit ihrem Faible für eskapistisches Blockbusterkino nicht als alleinige Zielgruppe ansieht“, sagt er. „Es sollte noch viel mehr Filme über Frauen geben und die müssen auch gar nicht alle heroisch oder positiv sein.“

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Dem Himmel so fern
„Dem Himmel so fern (2002) mit Julianne Moore und Dennis Haysbert war Haynes‘ Verbeugung vor zwei deutschen Regielegenden. © picture alliance/United Archives | United Archives/Impress

Wie kein zweiter versteht er es, komplexe weibliche Charaktere zu kreieren, gefangen in Konventionen ihrer Zeit, wie die verzweifelte Hausfrau in „Safe“ oder das heimliche Liebespaar im New York der 1950er Jahre in „Carol“, seiner Adaption des Patricia Highsmith-Romans „Salz und sein Preis“. In ihren Blicken steckt dabei mehr Begehren und Bedeutung als im gesprochenen Wort.

Verwandte Seelen in der Jury

„All meine Filme sind Experimente“, sagt er, „ich probiere jedes Mal etwas Neues, formal und stilistisch, auch wenn ich inhaltlich manchen Themen treu bleibe“. So ist sein jüngster Film, „May December“ über das ambivalente Verhältnis einer Schauspielerin zu ihrem realen Rollenvorbild, ein bemerkenswertes Konstrukt aus Melodram, psychologischem Thriller und düsterfunkelnder Tragikomödie.

Bei diesem vielschichtigen Spektrum an Filmen wird es in den nächsten zehn Tagen ein Vergnügen sein, darüber zu mutmaßen, wie Haynes die Beiträge dieses Wettbewerbs bewertet. Die eine oder andere verwandte Seele könnte er in der Jury finden, die Berliner Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader („Ich bin dein Mensch“) etwa, oder die oscarnominierte Bina Daigeler, die seit Jahren die Kostüme für Cate Blanchett und für Almodóvars Filme kreiert.