Dortmund. Ein Geschenk: Xin Peng Wangs letzte Choreografie am Dortmunder Ballett sorgt für Szenenapplaus, Jubel und rhythmisches Klatschen.

Die schlechte Nachricht: Sergej Ratmankys opulent ausgestattete Rekonstruktion von „La Bayadère“ beim Berliner Staatsballett ist aus und vorbei. Die gute: Es gibt sie jetzt in Dortmund! Xin Peng Wang, dem langjährigen Direktor des Dortmunder Balletts, ist für seine letzte abendfüllende Choreografie in diesem Amt ein besonderer Coup gelungen: Nicht nur die Kulissen und Kostüme konnte er vom Staatsballett übernehmen, sondern zugleich auch den seinerzeit verantwortlichen Kostümbildner und Ausstatter Jérôme Kaplan für die aktuelle Produktion gewinnen.

Wang wäre nicht Wang, hätte er Ratmanskys historisch informiertem Ansatz nicht seine eigene, moderne Lesart entgegensetzt: Nach einer Idee von Kaplan wird die tragische Geschichte der Tempeltänzerin Nikija, die den Geliebten Solor an Gamzatti, die Tochter des Herrschers verliert, und dem Mordanschlag der Rivalin erliegt, ins Hollywood der 1920er-Jahre verlegt. „La Bayadère“ wird zum Filmprojekt, das Drama von Liebe und Verrat nimmt parallel auch in der Rahmenhandlung seinen Lauf. Für den zweiten und dritten Akt (Verlobungsfeier und Reich der Schatten) hingegen greift auch Wang auf die legendäre Choreografie von Marius Petipa zurück.

Xin Peng Wang verlegt „La Bayadère“ an ein Filmset im Hollywood der 20er-Jahre

Wir erleben hier also ein umweltverträgliches „Upcycling“ (Zitat Kaplan) der Requisite. Und die bange Frage, ob „La Bayadère“ nur für naiven Exotismus oder doch für den kolonialen Blick auf den indischen Subkontinent steht, muss uns nicht weiter belasten: Ist schließlich alles nur Film! Wang und Kaplan gönnen uns in zweifacher Hinsicht Genuss ohne Reue: ein Abend wie Teignaschen ohne Bauchschmerzen. Dabei arbeiten sie immer hart am Klischee, vermögen jedoch mit ironischen Brechungen eine heitere Distanz zu erzeugen. Ein Beispiel: Die ikonische Szene aus dem ersten Akt, in der die Tänzerinnen im Tempel die heilige Flamme beschwören. Bei Wang wird ihr aus Kunststoff geformtes Abbild von den unermüdlichen Arbeitern am Set (plakativ mit Blaumann und Schiebermütze) umtanzt. Offensichtlich eine Verbeugung vor Brechts lesendem Arbeiter: Nicht die Filmstars haben die Felsbrocken herbeigeschleppt.

Ein raffinierter Kunstgriff: Die Handlung ist an ein Filmset der 20er-Jahre verlegt.
Ein raffinierter Kunstgriff: Die Handlung ist an ein Filmset der 20er-Jahre verlegt. © theaterdo | Leszek Januszewski

Köstlich ebenso die Videoeinspielungen (Mathieu Gremillet und Thomas Van Damme), die in Stummfilmmanier die Zwischenergebnisse der voranschreitenden Dreharbeiten zeigen. Hier wird geklotzt und nicht gekleckert: monumentale Kulissen, aufwändig gestalteten Kostüme zwischen indischer Folklore und Märchen aus 1001 Nacht. Man wartet förmlich darauf, dass wie in der Uraufführung von 1877 jetzt auch noch ein leibhaftiger Elefant erscheinen möge. Und dann kommt er. Zwar aus Plüsch, aber immerhin (fast) lebensgroß! Trotz des großen Tamtams gelingt es Wang, die verschiedenen Zeit- und Erzählebenen klar und nachvollziehbar zu montieren. Mit der Studiomanager-Figur (Filip Kvačák, agil und absolut hinreißend in seiner getanzten Hommage an Gene Kelly) hat er eine Art Conférencier geschaffen, der durch den Abend führt.

„La Bayadère“ in Dortmund: Höchstes Niveau auch beim Ensemble

Nicht zuletzt leitet die Musik: Am Filmset erklingt Ragtime (Karsten Scholz am Klavier), im Film Léon Minkus. Motonori Kobayashi malt die Partitur mit eher grobem Pinsel, weiß aber punktgenau die richtige Stimmung zu erzeugen. So beim berühmten Adagio, das einen der schönsten Überwältigungsmomente des klassischen Balletts begleitet: Eine nach der anderen betreten Tänzerinnen in weißen Tütüs über eine abschüssige Ebene die abgedunkelte Bühne (Lichtdesign Carlo Cerri) und vollführen dabei jeweils in vollkommener Synchronizität mit den Voranschreitenden eine Attitude derrière. Bis die Bühne schließlich mit 24 Tänzerinnen ausgefüllt ist. (70 bei der Uraufführung, 32 in späteren Fassungen – man vermisst hier keine). Ob es sich um manifestierte Geistwesen oder eine Halluzination des untreuen Geliebten handelt, der sich in später Reue in den Drogenrausch geflüchtet hat, bleibt auch hier offen; keinerlei Zweifel gibt es indes daran, dass hier klassischer Tanz auf höchstem Niveau gezeigt wird. Das gilt keineswegs nur für die Hauptrollen.

Für imposante Sprünge gefeiert: Giorgi Potskhishvili, hier mit Gaststar Anna Tsygankova in „La Bayadère“.
Für imposante Sprünge gefeiert: Giorgi Potskhishvili, hier mit Gaststar Anna Tsygankova in „La Bayadère“. © theaterdo | Leszek Januszewski

Auch wenn es Giorgi Potskhishvili mit imposanten Sprüngen mühelos gelingt, die Charakterschwäche des von ihm getanzten Protagonisten zu relativieren. Gaststar Anna Tsygankova (für die Premiere vom Niederländischen Nationalballett aus Amsterdam angereist) vermag mit vollendeter Form und anmutiger Feingliedrigkeit, das Publikum für sich und die unglückliche Tempeltänzerin einzunehmen. Und trifft dabei in Daria Suzi (als skrupelloser Tochter des Herrschers bzw. hier. Regisseurs) auf eine tänzerisch ebenbürtige Opponentin. Ein Ereignis für sich: António Ferreira als ‚goldenes Idol’!

Lauter Jubel und rhythmisches Klatschen für das Abschiedsgeschenk von Xin Peng Wang

Höchstnoten ebenso für das Ensemble. Stellvertretend für ihre Mittänzer sei hier Kasumi Iwati genannt, die ein kleines Missgeschick in einen großen Triumph verwandeln konnte. Wie sie scheinbar mühelos nach einem dramatisch anmutenden Sturz in ihre anspruchsvolle Solopassage zurückfand, hat ihr die Herzen des Publikums in einem stürmischen Szenenapplaus zufliegen lassen. Einen veritablen Tornado gab es zum dann Schluss. Schon vor dem ersten Vorhang hat es das Publikum kollektiv von den Sitzen gerissen (auch das eine Performance für sich): Rhythmisches Klatschen und lauter Jubel waren der Dank für Wangs vorgezogenes Abschiedsgeschenk.

Weitere Termine: 9.11., 19:30 Uhr; 17.11., 16 Uhr; 24.11., 18 Uhr; 1.2.25, 19:30 Uhr; 5.2.25, 19:30 Uhr. Karten unter www.theaterdo.de

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