Essen. Sie sind Gutmenschen, aber sie haben erneut kein gutes Album gemacht. Über das Dilemma der größten Band der Welt und ihr neues Album.

Kleines Gedankenexperiment: Stellen wir uns für einen Moment doch mal vor, die Welt als solche wäre so wie Coldplay. Menschenliebend, umarmend, inklusiv, farbenfroh, gerecht, friedlich, gemeinschaftlich, voller Liebe. Wir würden einander zuhören, zusammenhalten, freundlich sein und tolerant, wir würden versuchen, unseren Planeten zu beschützen und selbstverständlich darauf verzichten, uns gegenseitig Raketen um die Ohren zu schießen.

Wäre das wirklich schlimmer als der Ist-Zustand einer Welt, in der Verächtlichmacher für höchste Staatsämter kandidieren? In der ständig irgendwo (und nicht mehr nur von ganz rechts) Menschenwürde und Menschenrechten vors Schienbein getreten wird? In der die Umwelt plötzlich egal ist, weil ein paar Benzinautofabriken nicht mehr ausgelastet sind? Es gibt eine Menge Zyniker, die denken: Ja, wäre es. Und diese Zyniker hassen Coldplay von ganzem Herzen. Sie werden selbstverständlich auch das neue Album „Moon Music“ verachten.

Coldplay beschwören auf „Moon Music“, dass die Liebe alles richten wird

Denn auf den zehn neuen Songs blicken die vier Engländer um Sänger Chris Martin (auch schon 47) nicht mehr einfach nur positiv auf die Gesamtsituation. Sie beschwören ihr Publikum vehement, dass die Liebe alles richten wird. Sie verkünden ihre frohe Wir-ziehen-alle-an-einem-Strang-Botschaft derart unermüdlich, dass selbst den Gutgläubigsten schwindlig werden kann. Chris Martin ist nicht Jesus, genauso wenig wie sein Erweckungs-Popstar-Vorbild Bono von U2, aber verglichen mit dem Sohn Gottes hat der Erstgeborene von Anthony und Alison Martin aktuell den deutlich größeren Zulauf.

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Am 18. März 2022 startete Coldplay ihre Tournee im Estadio Nacional de Costa Rica, am 8. September 2025 soll nach dreieinhalb Jahren und zehn Hintereinander-Shows im Londoner Wembley Stadium Feierabend sein. Die „Music Of The Spheres“-Tour ist mit 1,07 Milliarden US-Dollar die umsatzstärkste aller Zeiten, dreißig Millionen Dollar vor Taylor Swifts „Eras“-Rutsche. Im Rahmen der Möglichkeiten einer die Kontinente übergreifenden Stadiontournee ist das Großunternehmen Coldplay einigermaßen umweltfreundlich und nachhaltig unterwegs. Überall auf der Welt – auch in China, Indien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten – bringt die Band die bunt leuchtenden Armbändchen ihrer Fans zum Flackern. Globaler geht es gar nicht.

Coldplays „Moon Music“: Eine aufgeblasene Platte für die Massen

Das Problem von „Moon Music“ ist nun, dass die Platte so generisch, aufgeblasen, pompös und austauschbar klingt, als sei sie exakt für eben dieses universelle Stadionpublikum konzipiert, geschrieben und umgesetzt worden. Was sie sehr wahrscheinlich auch ist. Martin und Kollegen machen Musik für die Massen. Simplizität first, Kunst second. Daran ist natürlich nichts verkehrt, siehe oben. Besser 70.000 Menschen schwelgen Abend für Abend in Harmonie und Glücksgefühlen, als dass sie aufeinander losgehen, logisch. Aber etwas weniger formelhaft, naiv, schlicht und einer in zuckrigen Plattitüden ertränkten Lyrik wäre die Botschaft vielleicht noch überzeugender – und nicht manchmal am Rande der Selbstironie entlangschlitternd – rübergekommen.

Coldplay - Moon Music
Das Plattencover zu Coldplays Album "Moon Music". © HO | Parlophone

Zu Beginn der Karriere, vor fast 25 Jahren, ging das ja auch. „Fix You“, „Paradise“ oder „In My Place“ sind echte Schätze und Klassiker des melancholischen (Indie)-Pop, selbst die coolen Kids hatten damals ein Herz für Coldplay, auch wenn Männer dieses Faible gern verheimlichten und heute häufig leugnen. Als die Auftrittsorte größer und schließlich zu Stadien wurden, wuchsen auch die Songs, allerdings bloß in Punkto Bombast, qualitativ ließen sie nach. Aber jetzt ist es wohl zu spät, die Marke Coldplay wieder stärker den Wurzeln anzunähern. Das musikalische Viel-hilft-viel-Kind liegt nicht erst seit „Moon Music“ im Brunnen, und hier ersäuft es auf „Moon Music“.

Stargäste von Nile Rodgers bis Little Simz

 „feelslikeimfallinginlove“ (sie schreiben das so, alle anderen Songs sind komplett in Großbuchstaben, nur das „i“ ist immer klein, fragen Sie nicht) hört sich an wie von einer etwas nachlässig programmierten KI komponiert (tatsächlich hat der schwedische Pop-Maestro Max Martin an der Malen-nach-Zahlen-Nummer, wie auch an einer Reihe weiterer Stücke, mitgewirkt). Das mächtig aufgemotzte „We Pray“, auf dem die Rapperin Little Simz, Afropop-Star Burna Boy sowie die palästinensisch-chilenische Sängerin Elyanna mitmachen, klingt, als seien allein hier große Teile des angeblich für das Album zur Verfügung gestandene Budget von 35 Millionen britischer Pfund verbraten worden. „GOODFEELiNGS“ ist ein wirklich sehr, sehr gutgelauntes Lied übers Verlieben und Miteinandertanzen, Chic-Gitarrist Nile Rodgers ist auch dabei und fällt kaum auf.

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„iAAM“ hat was von den Black Eyed Peas und irritiert durch besonders sinnlose Textzeilen wie „I’ll be back on my feet again, because I am a mountain“ auf. „AETERNA“ lässt die Beats der Balearen derart brachial vom Stapel, dass es wohl selbst einem David Guetta zu plakativ wäre. Ganz hübsch und mit angenehmer, akustischer Gitarre erzählt „Jupiter“ von einem queeren Mädchen, das die Zuversicht nicht verlieren und bitte lieben möge, wen immer es will. Selbst das mag etwas trivial sein, aber tatsächlich gibt es mehr als genug Ecken auf der Welt, wo man bei diesem Thema nicht viel voraussetzen darf. Ach, apropos, ein Lied namens „🌈“gibt es auch. Es enthält Zeilen der verstorbenen US-amerikanischen Bürgerrechtlerin und Poetin Maya Angelou.

Floskeln zum Abschluss

Die letzten zwei Songs dieses mit Floskeln nur so um sich werfenden, die Liebe reichlich eindimensional betrachtenden und musikalisch zusammengewürfelt wirkenden Albums heißen „ALL MY LOVE“ und „ONE WORLD“. Ersterer ist eine maximal affirmative Klavier-und-Streicher-Ballade („Wether it rains or pours, I’m All Yours“), deren „Let It Be“-Ähnlichkeit belegt, dass aus Chris Martin in diesem Leben kein John Lennon mehr wird. „One World“ geht fast sieben Minuten lang. Wie in einem Mantra und definitiv bestens zur Meditation geeignet, säuselt Chris Martin immer und immer wieder: „In the end, it’s just love.“

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Sie sind Träumer. Sie sind größenwahnsinnig. Sie wären vielleicht am liebsten eine Vier-Mann-UNO. Und ja, sie gehen einem ein bisschen auf den Geist. Aber sie meinen es wirklich gut. Kann sein, dass wir inmitten der ganzen Kaputtheit, die uns umgibt, genau diese alles heil machen wollende Band brauchen. Sollen Coldplay doch noch die nächsten fünfzig Jahre mit ihrer kunterbunten Kindergartenmusik um die Erde (und vielleicht ja bald ins All, weltentrückt genug sind sie ja) ziehen. Die Welt wird durch diese Band gewiss nicht zu einem schlechteren Ort. Zwei Alben wollen sie noch machen. Zwölf sollen es insgesamt werden. Dann, so beteuerte Chris Martin gerade, sei Schluss. Die Sarkasten mögen an dieser Stelle schweigen.