Dortmund. Nach dem Tod seines Teenager-Sohnes ging Nick Cave durch den Schmerz. Sein neues Album „Wild God“ führt ihn zurück zum Glück.
Auferstehung ist ein großes Wort. Aber vielleicht gerade richtig für das, was Ausnahmekünstler Nick Cave und seine langjährige Band The Bad Seeds auf „Wild God“ vollziehen. Nach Jahren voller Schmerz, Prüfung und Sinnsuche findet der Australier auf seinem 18. Bandalbum zurück zu einer Lust am Leben, am Musikerkollektiv und am Geschichtenerzählen. Darauf dürften viele Fans gehofft haben, selbstverständlich ist es nicht: Nick Cave war jener existenziellen Tragödie begegnet, von der er in seiner Karriere so oft gesungen hatte.
Im Sommer 2015 stirbt Nick Caves Sohn Arthur mit nur 15 Jahren bei einem Unfall. Ein unvorstellbarer Horror, den Cave als „Explosion deines Selbst“ beschreibt. Schon auf dem vorherigen Bad-Seeds-Album „Push The Sky Away” (2013) hatte der Künstler sich von gut erzählten Moritaten und ekstatischem Rocksound entfernt, stattdessen häufiger über elektronische Miniaturen frei assoziierende Bewusstseinsstrom-Texte fließen lassen. Im Angesicht des Verlusts gerät sein folgendes Album „Skeleton Tree“ (2016) – obwohl zum Unfallzeitpunkt bereits zum größeren Teil eingespielt – mit seinen minimalistischen Elektro-Endlosschleifen und den zerrissenen Text-Bruchstücken zu einem düsteren Requiem für den Sohn.
Die Fans als Retter
Cave zieht sich zurück, gibt keine Interviews mehr, versucht das Unbegreifliche zu begreifen. Gleichzeitig passiert etwas Fantastisches: Seine Fans überschwemmen ihn mit Anteilnahme. Als er mit den Bad Seeds wieder Konzerte spielt, werden die immer schon intensiven Shows zu gegenseitigen Liebesbeweisen; die Hände in den ersten Reihen drückt er fester und länger als je zuvor. Aus der Erfahrung werden 2018 die „Red Hand Files“ geboren: Auf der gleichnamigen Webseite veröffentlicht Cave Antworten auf Fan-Fragen, die von banal bis philosophisch reichen und die er stets offen, sinnstiftend und auch mal humorvoll beantwortet. Der Musiker und sein Publikum rücken zusammen, finden beieinander Trost. Umso mehr bei den „In Conversation with Nick Cave“-Auftritten, die das Frage-Antwort-Konzept 2019 auf die Bühne verlegen – aus dem Rockstar wird ein weiser Ratgeber. Cave liefert sich und sein Martyrium seinen Anhängern aus, und sie erheben ihn spirituell.
Auf dem 2019 erscheinenden Album „Ghosteen“ bleibt Caves Sehnsucht nach Heilung offenkundig: Die Platte ist ein wabernder Ambient-Nebel, die Bad Seeds verschwinden darin als vage Ahnung, Cave geht ins metaphysische Zwiegespräch mit dem Geist seines Sohnes; ein akustisches Zeugnis des Ringens um Akzeptanz und Loslassen. Dann kommt die Pandemie, Cave hat viel Zeit zum Nachdenken, über Verlust, Hoffnung, Zweifel und Gott. Seine Gespräche darüber mit Freund und Journalist Seán O’Hagan erscheinen 2022 als Buch unter dem Titel „Glaube, Hoffnung und Gemetzel“. Schon 2021 veröffentlicht er außerdem zusammen mit seinem Bad-Seeds-Intimfreund Warren Ellis das spontane Album „Carnage“. Darauf gibt es den Song „Hand Of God“, in dem er darüber sinniert, sich einer höheren Macht zu ergeben. Nick Cave, der nie an einen „interventionistischen Gott“ glauben wollte, verhandelt seine Spiritualität neu.
Der „Wild God“ steckt in allem
„Wild God“ wirkt nun, als habe der ewige Gottessucher und -anzweifler Cave (der schon immer fasziniert war von biblischem Zorn und der Jesus-Figur) seinen Frieden mit der irdischen wie übernatürlichen Welt gemacht: Der „wilde Gott“ aus dem Albumtitel ist der des Pantheismus, Göttlichkeit findet Cave nun in allem chaotischen Sein, den Menschen, den Dingen, der Natur, dem Guten wie dem Schrecklichen – alles Teil der göttlichen Komödie, der man auch dann nicht entkommen kann, wenn einem das Lachen angesichts von Tod und Verlust im Halse stecken bleibt.
Eine befreiende, erlösende Perspektive, die man dem neuen Album stets anhört: Die Bad Seeds und der Rockmythos sind zurück, Gitarren, Schlagzeug und Klavier verbinden sich organisch mit den elektronischeren Entwürfen der vergangenen Alben. Dabei krönen erhebende, teils rauschhafte Chöre viele der zehn Songs; alles an dieser Musik zieht gen Himmel, hin zu Gott.
Zurück in der echten Welt
Nicht nur der Sound, auch Caves Erzählen ist gewissermaßen in die wirkliche Welt zurückgekehrt: Die Menschen in seinen Songwelten sind wieder mehr als bloße Schemen, und die Geschichten wirken weniger zerfasert, wenngleich oft allegorisch. Ohnehin hat Cave das Enigmatische nicht gänzlich abgestreift: Zeilen wie die von den „Zimt-Pferden“ und „Terpentin-Bäumen“ in „Cinnamon Horses“ sind große psychedelische Poesie, nur wurzelt die mittlerweile wieder in der Realität statt in grüblerischen Gedanken. Und die Caveologen werden ihre Freude daran haben, den „flammenden Jungen“ oder das „Mädchen aus der Jubilee Street“ anderswo im Werk zu verorten.
Prägender aber ist für „Wild God“, wie sehr es von Akzeptanz, Positivität und Liebe durchdrungen ist. „I will always love you“, „You’re beautiful!“, „I told my friends that life was sweet” – fast jeder Song kann mit solch golden schimmernden Zeilen aufwarten, die den warmen, stets leicht sakralen Ton der Platte unterstreichen. Dass sich das so gut wie immer heilsam statt kitschig anlässt, spricht für das überragende Handwerk des 66-jährigen Cave und seiner Band.
Zeit für Freude
Neben dem Titeltrack, der den „wilden Gott“ als Spiegelbild der Menschheit personifiziert und schließlich das Leben in all seiner göttlichen Unberechenbarkeit feiert, und „Conversion“, das in seiner orgastischen Intensität tatsächlich wie „vom Geist erfasst“ und bekehrt wirkt, gibt es einen dritten Schlüsselsong: das programmatisch betitelte „Joy“. Angelehnt an den Stil alter Bluessänger beichtet Cave einen Moment großer Verzweiflung ob des Verlustes seines Sohnes. Der Geist des Verstorbenen erscheint – und spricht den Vater frei: „We’ve all had too much sorrow, now is the time for joy“. Das darf man in seiner schlichten Weisheit gern als Inspiration nehmen, gerade dieser Tage: Auch über den größten Schmerz sollte man die Freude nicht vergessen.
Nick Cave auf „Wild God“-Tour:
- 24.09.24 Oberhausen - Rudolf-Weber-Arena (Tickets ab 59,15 Euro)
- 29.09.24 Berlin - Uber Arena
- 30.09.24 Berlin - Uber Arena (Zusatztermin)
- 08.10.24 Hamburg - Barclays Arena
- 18.10.24 München – Olympiahalle
- 22.10.24 CH-Zürich – Hallenstadion