Essen. Die Crème aus 2333 Entwürfen des Jahrgangs ‘23: „Sie sind plakativer“, so René Grohnert, Chef des Essener Plakatmuseums. Was das heißt.

Immer waren Segel auf dem Plakat der Kieler Woche. Spätestens seit dem genialen Entwurf von Hans Hillmann für die Segelregatta von 1964: Hauptsächlich mittelblau war das Plakat, mit einem spitz in den Himmel ragenden weißen Dreieck und einer geraden Linie dahinter bis zum linken Rand, eine stilisierte Heckwelle. Und dann kam jahrzehntelang niemand mehr um ein Segel herum, wenn die Kieler Woche plakatiert werden sollte. Bis der chinesische Designer Jianping He aus Berlin kam, mit einem noch schlichteren, noch schlagenderen Entwurf für dieses Jahr – ohne Segel! Da verläuft von unten ein Meertiefblau nach oben hin immer blasser werdend bis zu einem weißen Nebel, auf dem oben der Schriftzug „Kieler Woche 2024“ links auftaucht und rechts „22.–30. Juni“. Mehr ist auf dem ganzen Plakat nicht zu sehen.

Plakate
Zu sehen in der Ausstellung „100 beste Plakate! bis zum 14-August auf Zeche Zollverein, links vom Design-Museum: Ein Kafka-Projekt Claudiabasel Grafik & Interaktion Jiri Oplatek Schweiz, 2023 Format: F4 (Weltformat) Kategorie: Auftragsarbeiten Druckerei: Lézard Graphique Auftraggeber: Theater Basel, © Museum Folkwang | Claudiabasel Grafik & Interaktion

Und doch prägt es sich blitzschnell tief ein. Es ist das Optimum von einem Plakat. Denn: „Ein gutes Plakat zeigt Wirkung. Das ist die Hauptsache“, sagt René Grohnert – und wer sollte es besser wissen als der Chef des Deutschen Plakatmuseums? „Wenn es darüber hinaus noch grafisch ganz reizvoll ist: Schön und gut“, räumt er ein, „aber wichtig bleibt die Wirkung.“ Wenn zu viel experimentiert oder gespielt werde, lasse die „Liefergenauigkeit“ zu wünschen übrig.

„100 beste Plakate“: Manche sind so wie in der Hippie-Zeit, als Schriften nur für Eingeweihte lesbar waren

Das ist der Grund, warum er den Jahrgang 2023, wie er sich in den „100 besten Plakaten“ darstellt, „plakativer“ als die in den Vorjahren nennt: „Da sind mehr Auftragsarbeiten drunter als sonst, daran könnte es liegen.“ Zu sehen ab sofort und nur bis zum 18. August auf der Essener Welterbe-Zeche Zollverein in der Halle 8, links vom Design-Museum.

Plakate
Ein Festival für immersive Kunst, wer hätte das gedacht? Dieser Plakat-Entwurf gehört zu denen, die am Bildschirm ausgedacht wurden: „Weekend Prolongé“, 2023. Enen studio Emilie Excoffier, Manon Schaefer Schweiz, 2023 Format: F4 (Weltformat) © Museum Folkwang | Enen studio

Aber manchmal siegt auf Plakaten doch die hohe Kunst: Ausgerechnet das Werbeplakat für das Grafik-Design-Festival „Weltformat“ geriet 2023 zum heillos überladenen Rätsel-Objekt, das vorführt, wie man es auf keinen Fall machen sollte. René Grohnert erinnern sie an die Plakat-Mode der Hippie-Zeit, in der es schick war, Schriften zu verwenden, die nur für Eingeweihte lesbar waren: „Man schloss alle anderen bewusst aus, 72-Punkt-Unleserlich, hieß das damals“, schüttelt Mr. Plakat den Kopf.

„100 beste Plakate“ des Jahrgangs 2023 auf Zeche Zollverein: Werbung für Theater

Wie klar dagegen die Sprache des Plakats „Haltet Euch fest!“, das für die Spielzeit des Mecklenburgischen Staatstheaters 2023/24 warb. Mit einer anspielerischen Provokation, weil es den sozialistischen Handschlag aufgreift. Oder die Reklame für den Kinder-Kultur-Monat in Berlin, mit kindlich gemalten Figuren und dem Slogan „Uff Eemal Jeht Se Uff Die Tür“. Und das Auge auch, möchte man hinzufügen. Grandios auch das Plakat fürs österreichische Kältetelefon, das nicht mehr als diesen Begriff und die Telefonnummer dazu umfasst, mit frostigen Eiszacken an den Buchstaben- und Zahlenrändern.

Plakate
Sehr plakativ, aber doch auch verspielt: „Heimat. Auf Spurensuche in Mitholz.“ Auftraggeber: Alpines Museum der Schweiz © Museum Folkwang | Studio Daniel Peter

Der rastlose Schweizer Altmeister Niklaus Troxler hat sich übrigens der „Tape Art“ zugewandt, also der Kunst, die aus abgerissenen Klebestreifen entsteht. Ein zu Herzen gehendes, aus dem Dunkeln leuchtendes „Und Friede den Menschen auf Erde“ ist etwa auf diese Weise entstanden. Wenn zu viel Zierrat und Schnörkel und Extravaganzen ein Poster überlagern, hat René Grohnert übrigens meist den Computer-Monitor als Mittäter im Verdacht: „Handarbeit gibt es heute gar nicht mehr. Aber die Wahrheit des Plakats liegt im Papier, im Druck!“

Zur Ausstellung

„100 beste Plakate 2023“. Zeche Zollvervein, Halle 8. Gelsenkirchener Str. 181, Essen. Geöffnet: Mo-So, 11-17 Uhr. Eintritt frei. Katalog: 100 Beste Plakate e. V. (Hg.): 100 beste Plakate 23 Deutschland Österreich Schweiz Slanted Publishers, 264 S., 35 €.

Der Wettbewerb „100 beste Plakate“ ist eine DDR-Erfindung aus dem Jahr 1966. Seit 2001 wird er von einem privaten Verein organisiert. Die Ausstellung umfasst auch zehn animierte Plakate, deren digitale Erweiterung mit der App „Artivive“ abgerufen werden kann (QR-Code und WLAN in der Ausstellung).

Immerhin 2333 Plakate aus Deutschland, Österreich und der Schweiz hatte die mit fünf internationalen Fachleuten hochkarätig besetzte Jury zu sichten. Es waren 1184 Einzelplakate und 334 Serien (die als ein Plakat zählen). Die meisten Prämierungen (51) errangen übrigens Einreichungen aus der Schweiz, vor den deutschen (45) und den österreichischen (4).

Und wenn selbst ein Experte wie der im Museum Folkwang ansässige Plakatmuseums-Chef schon hier und da die Wirksamkeit eines der 100 prämierten Plakate bezweifelt, wie sollte da nicht das Publikum hier und dort in der Ausstellung die Augenbrauen zusammenziehen? Ein optisch ungemein vielfältiges, anregendes Erlebnis mit Diskussionspotenzial bleibt sie aber doch – eine gute Schule für den Blick.