Gelsenkirchen. Das digitale Gedächtnis des Reviers hat jetzt über 10.000 Bilder. 2024 kamen 20 Serien dazu – jetzt im Wissenschaftspark Gelsenkirchen.

Hinreißende Menschenbilder sind neu im Pixelprojekt Ruhrgebiet, und sie zeigen die Leute hautnah, lebensecht, berührend: Kinder und Kindermütter und alte Leute von früher, aber auch chinesische Studentinnen von heute in ihrem heiklen Leben in einer Welt der Kontraste. Oder seltene Szenen aus der High Society.

Einmal im Jahr springen die neuen Bilder des Pixelprojekts, dem digitalen Gedächtnis des jüngeren Ruhrgebiets, aus dem Internet in die analoge Realität: als diesmal wieder sehenswerte Ausstellung im ewig langen, von Licht gefluteten Flur des Wissenschaftsparks in Gelsenkirchen.

Bilder vom 80. Geburtstag des Krupp-Fürsten Berthold Beitz für den Harenberg Verlag

Und hier blicken wir dann durch die Kamera von Jochen Balke zurück auf das Ruhrgebiet der 70er-, 80er-Jahre: Körperlich gehandicapte Kinder, beim Spielen, beim Lernen, beim Essen – ein Stein, wer sich da nicht anstecken lässt von ihren fröhlichen Augen, ihren verschmierten Mündern, ihrem Schwung. Wie unbefangen sie mit der Welt umgehen! Und wie unwichtig ihr Handicap ist... Ein paar Meter weiter: Kindermütter, wie Claudia Thoelen sie aufgenommen hat. Zwei Jahre brauchte sie, bis die Mütter im Teenager-Alter Vertrauen zu ihr fassten: „Frauen, die ein kurzes Leben lang zu kurz gekommen sind“. Und deren Kinder aufwachsen zwischen Liebe und Verwahrlosung – das beeindruckendste Bild der Schwarzweiß-Serie sind ein Paar ausgelatschte Basketballstiefel, mit Glückwünschen zum neuen Jahr beschriftet, einer halbvollen Babyflasche und einem halbvollen Aschenbecher davor.

Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
Ein Bild aus Jiaying Yus Serie „in between“ über chinesische Studentinnen im Ruhrgebiet. © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Jiaying Yu

Der Kontrast dazu: Farbbilder von der damaligen High Society des Reviers, die den 80. Geburtstag von „Mr. Krupp“ Berthold Beitz feierte. Der Dortmunder Harenberg Verlag hatte dem Fotografen Edgar Zippel Zugang zu der sonst abgeschirmten Welt verschafft. Er nahm im Sommer 1993 für einen Bildband über das Revier 30.000 Bilder in 100 Tagen auf.

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Bilder vom Ende einer „Pantoffelkirche“, wie Ruhrbischof Hengsbach sie nannte, im Pixelprojekt Ruhrgebiet

Aus der Gegenwart blicken uns die Mitstudentinnen von Jiaying Yu an, „in between“, wie sie ihre Serie nennt: immer dazwischen. Sie erleben geradezu einen Ansturm westlicher Freiheiten, kommen aber aus ihrer traditionellen, autoritären Prägung mit einem völlig anderen Frauenbild nicht heraus. Die Farbfotos erzählen ungemein intensiv davon, wie sie sich in ihren Zimmern „sichere Räume“ schaffen, die ihnen Halt geben. Ebenfalls aus der Gegenwart: Ute Jägers Dokumentation „Wir graben einen neuen Bach: Der Ostbach in Herne“. Sie zeigt, dass der Emscher-Umbau ja auch enorm viele Seitenstränge, Nebenbäche hat. Der Ostbach war wie viele Emscher-Zuflüsse, ebenfalls zum Abwasserkanal umfunktioniert. Heute ein Bild von einem Bach. Beziehungsweise eine ganze Serie.

Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
„Ende einer Pantoffelkirche“: Karena Lütge fotografierte das Hinweis: Der Abdruck ist im Rahmen der Berichterstattung über das Pixelprojekt_Ruhrgebiet honorarfrei beiNennung des Bildautors und Übersendung eines Belegexemplars aninfo@vdbpr.de, Pressestelle Wissenschaftspark, Munscheidstr. 14, 45886 Gelsenkirchen © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Karena Lütge

Spannend auch die Serie, mit der Karena Lütge das „Ende einer Pantoffelkirche“ begleitet – so nannte der Ruhrbischof Hengsbach seine Wunschvorstellung, alle Katholiken im Revier mögen eine Kirche zum Wohlfühlen um die Ecke haben. Eine sechsstellige Zahl von Kirchenaustritten später stehen etliche dieser Pantoffeln leer. Werden abgerissen. Oder zurückgebaut wie St. Theresia in Essen-Stadtwald, von der am Ende nur noch ein Stahlskelett blieb. Karena Lütge hat das in eindringlichen Bildern festgehalten hat: Wer ihre beiden Bauschutt-Wannen zwischen bunten Bibelszenen auf Hinterglas sieht oder das Kruzifix zwischen Tragegurt und Baugerüst, ahnt recht schnell, dass da mehr entkernt wird als ein Gebäude. Und wer weiß, dass Karena Lütge die Tochter des Architekten ist, der diese Kirche in den 50er-Jahren entworfen hat, ahnt die Emotion, die hinter den Bildern steckt.

20 neue Serien hat das Pixelprojekt Ruhrgebiet nach Jury-Begutachtung 2024 neu aufgenommen

Unter den 20 Serien von 15 Fotografinnen und Fotografen, die nach einer Jury-Begutachtung neu aufgenommen wurden, sind auch wieder solche, die genau hinschauen bei den alltäglichen, öden, verlassenen, verwahrlosten Ecken des Reviers. Aber sie wirken, bei allem fotografischen Können, wie Variationen und Wiederholungen von Serien über die Unwirtlichkeit der Ruhrgebietsstädte, von denen es im Pixelprojekt gar nicht so wenige gibt. Insgesamt sind es heute 611 Fotoserien mit mehr als 10.000 Einzelbildern.

Fotografie. Wandel. Wir. – Sammlung fotografischer Positionen

Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
Wir bekommen ein Baby, „irgendwie fühle ich mich gezwungen, gefälligst glücklich zu sein.“ © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Karl-Heinz Tobias
Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
Türkenwohnhaus Lotharstraße, Duisburg © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Jochen Balke
Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
Muntermonieka © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Karl-Heinz Tobias
Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
Frauen im Altenheim „... und jeden DIenstag kommt der Friseur.“ © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Karl-Heinz Tobias
Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
Zwei Leben (Work in progress) © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Elke Seeger
Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
Wir graben einen neuen Bach. Der Ostbach in Herne © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Ute Jaeger
Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
Ende einer Pantoffelkirche © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Karena Lütge
Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
36 Jahre © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Andreas Schiblon
Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
Vestia © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Christian Westphalen
Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
„Das verlorene Refugium an der Ruhr-Universität Bochum“ © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Babette Sponheuer
Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
in between © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Jiaying Yu
Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
OF. © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Ralf-Dieter Wewel
Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
100 Tage © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Edgar Zippel
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Bochum © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Volker Daum
Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
Im Ruhrtal © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Ayla Erden
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Kupferhüttensiedlung Duisburg-Hochfeld © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Jochen Balke
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Altersheim © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Jochen Balke
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Heim für Kinder mit körperlicher Behinderung © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Jochen Balke
Pixelprojekt Ruhrgebiet 2024
Tagesgeschäft von Alexander Lackmann © Pixelprojekt Ruhrgebiet | Alexander Lackmann
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Dabei sah es anfangs gar nicht nach einem Erfolgsprojekt aus. 2002, im Gründungsjahr von Wikipedia, hatte der Gelsenkirchener Fotograf Peter Liedtke die Idee zum Pixelprojekt: „Aber es gab noch große Vorbehalte gegen das Internet. Und Sorgen, dass die Fotos da geklaut werden können“. Die Sorgen sind theoretisch immer noch berechtigt. Aber was unter www.pixelprojekt-ruhrgebiet.de steht, ist heute gesichert und mit Wasserzeichen versehen.

Pixelprojekt-Macher Peter Liedtke: „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch machen kann.“

Und 24 Stunden nach dem Start des Pixelprojekts mit 33 Serien hatten sich 20 weitere Fotografinnen und Fotografen um Aufnahme beworben. Im zweiten Jahr waren dann auch Foto-Stars wie Duane Michals aus New York oder der Magnum-Fotograf Leonard Freed mit von der Partie. Peter Liedtke ist nach wie vor der Motor des Projekts, unbezahlt, mit jeder Menge Idealismus. Aber: „Ich bin dieses Jahr 65 geworden“, sagt er, „und ich weiß nicht, wie lange ich das noch machen kann.“

Zu sehen bis 1. November. Wissenschaftspark, Munscheidstr. 14, 45886 Gelsenkirchen. Geöffnet: Mo-Fr 8-17:30 Uhr. Eintritt frei.