Essen. Frédéric Tellier schuf ein Denkmal für den französischen Vater der Armen. Und er zeigt, weshalb seine Ziele immer noch relevant sind.

Am Ende kehrt der Film in die heutige Zeit zurück. Obdachlose in Paris, sie liegen auf der Straße, kauern in Ecken, drücken sich in Hauseingänge, die Gesichter gezeichnet und traurig. Zutiefst berührende Aufnahmen. Sie stehen wie ein Ausrufezeichen hinter dem prall inszenierten Biopic, das eine Figur umkränzt, die hierzulande viele gar nicht kennen: Abbé Pierre, Sohn eines reichen Seidenfabrikanten, Kapuzinermönch, Priester, Widerstandskämpfer, Vater der Armen, Gründer der Emmaus-Bewegung. In Frankreich ist er ein Nationalheld, eine der beliebtesten Persönlichkeiten, jetzt stellt ihn Regisseur Frédéric Tellier ausgiebig vor. „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“.

„Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“ ist ein historisches Mammutwerk

Ein Mammutwerk – und eine Hommage an den alten zornigen Mann mit Kappe und weißem Zottelbart, der 2007 mit 94 Jahren in Paris gestorben ist. Seine Rolle hat Benjamin Lavernhe übernommen („Birnenkuchen mit Lavendel“, „Das Leben ist ein Fest“), der sich hier als Charakterdarsteller vorstellt: ein Verdienst der Maske, aber auch eine reife schauspielerische Leistung. Abbé Pierres vielschichtiges Wesen, seine Zerrissenheit, Zartheit und Kraft, seine Eitelkeit und der Idealismus, der Glaube und die Wut bilden eine überzeugende Einheit.

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Zu Beginn sehen wir ein freies Feld in der Nacht, einen Greis, der mit sich hadert: „Habe ich es geschafft, die Dinge etwas zu verändern? Hinterlasse ich eine bessere Welt?“ Dann Rückblende – Abbé Pierre als junger Kapuzinermönch, als er noch Henri Goués hieß. Die Arbeit im Kloster ist hart, die Gesundheit macht ihm zu schaffen, nur sein Freund François gibt ihm Halt. „Du bist zu labil und ständig krank“, wirft der Abt ihm vor: Er möge sich lieber um eine ruhige Stelle in einem Pfarramt bemühen.

Frédéric Tallier erzählt Abbé Pierres Lebensgeschichte chronologisch

Frédéric Tellier erzählt chronologisch. Sechs Jahrzehnte in 135 Minuten, ein Abenteuerleben im Schnelldurchlauf: Die Jugendzeit, dann das Leid des Zweiten Weltkriegs, in dem Abbé Pierre eine Truppe kommandiert und Soldaten verliert. Er schließt sich der Resistance an, rettet vielen Juden das Leben. Nach 1945 erlebt er, wie die Armen auf den Straßen von Paris erfrieren. Es wird die Initialzündung für seinen Kampf gegen Ausgrenzung. In einem leerstehenden Haus gründet der Geistliche die erste Emmaus-Gemeinschaft. Dort erhält jeder eine warme Suppe und einen Schlafplatz.

 Beliebt wie ein Popstar: Abbé Pierre im französischen Film „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“, der jetzt im Kino anläuft.
 Beliebt wie ein Popstar: Abbé Pierre im französischen Film „Ein Leben für die Menschlichkeit – Abbé Pierre“, der jetzt im Kino anläuft. © Splendid Film | Splendid Film

Die Bewegung wächst und professionalisiert sich. Ihr Gründer wird Abgeordneter des Parlaments, dort wettert er gegen die Rüstungsausgaben, die in keinem Verhältnis zur Bekämpfung der Not auf den Straßen stünden. Immer an seiner Seite: Die Nonne Lucie Coutaz (genial: Emmanuelle Bercot) die ihn einst vor der Gestapo gerettet hat, indem sie ihm neue Papiere beschaffte. Der Beginn einer lebenslangen Freundschaft.

„Ein Leben für die Menschlichkeit - Abbé Pierre“ kommt mit einigem Pathos daher

Abbé, der Zweifler, der Kämpfer für Solidarität und Menschlichkeit. Und Abbé, der Superstar, der Medienliebling, der seine Popularität dazu nutzte, für sein größtes Ziel zu werben. Heute ist aus der Emmaus-Gemeinschaft eine internationale Bewegung geworden, die sich weltweit gegen Armut einsetzt.

 „Ein Leben für die Menschlichkeit“: Abbé Pierre (Benjamin Lavernhe) als alter Mann.
 „Ein Leben für die Menschlichkeit“: Abbé Pierre (Benjamin Lavernhe) als alter Mann. © Splendid Film | Splendid Film

Das alles kommt mit einigem Pathos daher, eingebettet in einen dramatischen Sound und Bilder, die mitunter magisch sind. Licht und Schatten zaubern Szenen, die an altmeisterliche Gemälde erinnern – selten hat man einen schöneren Sterbemoment gesehen. Und wenn Abbé Pierre und Lucie Coutaz als alte Menschen durch die Straßen schlendern, entstehen Augenblicke tiefster Innigkeit.

„Ein Leben für die Menschlichkeit“: Es gibt nicht mehr viele wie Abbé Pierre

Am Schluss bleibt manche Wissenslücke. Tellier hat in der Dichte der Zeit nicht alles geschafft. Aber vor allem bleibt die Faszination für einen Mann, der am Ende seines Lebens selbst erkennen muss, dass er aus der Zeit gefallen ist. Die Gier wächst, die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größter, Mitgefühl ist unmodern. Es gibt nicht mehr viele wie Abbé Pierre. Dies ist eine gute Gelegenheit, ihn kennenzulernen.