Dortmund. Gorbatschow zu Besuch, Frauen im Hungerstreik und eine feindliche Übernahme: All das gehört zur bewegenden Geschichte von Hoesch in Dortmund.
„Imposantes Wohn- und Geschäftshaus mit prägnanter Historie. Ausstattung: gehoben. Objektzustand: gepflegt. Kostenpunkt: 12,5 Millionen Euro“. So wird eine Immobilie angepriesen, die gerade in Dortmund auf dem Markt ist – und längst zu einem der bekanntesten Lost Places der Stadt geworden ist: die alte Hoesch-Zentrale an der Rheinischen Straße.
Die Jahre des Leerstands haben die meisten ihrer Räume nicht unbeschadet überstanden. Nur noch wenig weist auf die einstige Macht und den Glanz der Stahlindustrie hin. Dortmund ohne Hoesch? Das war lange Zeit unvorstellbar. „Fast eine Viertel Million Menschen hat unmittelbar von Hoesch gelebt“, sagt Ingrid Thiel. Auch sie war – und ist – eine echte „Hoeschianerin“.
Hoesch in Dortmund: „Der Schlot muss rauchen“
Nach ihrer Ausbildung zur Industriekauffrau arbeitete sie mehrere Jahre für Hoesch – und ist als Rentnerin zurück zu ihren Wurzeln gekehrt: Heute führt sie Interessierte durch das Hoesch Museum. „Wir befinden uns hier auf historischem Boden“, begrüßt sie Besucherinnen und Besucher im ehemaligen Portierhaus der Westfalenhütte, das heute das Museum beherbergt.
Durch den Torbogen im Eingangsbereich strömten zu Spitzenzeiten jeden Tag um die 24.000 Arbeiter, um ihre Schicht zu beginnen. „Alles war düster, überall knatterten Lokomotiven, alle waren am Malochen. Damals hieß es: Der Schlot muss rauchen. Denn wenn der Schlot raucht, wird Geld verdient. Und hier rauchte alles“, erzählt Thiel.
Gegründet wurde die „Eisen- und Stahlwerk Hoesch AG“ 1871 von Leopold Hoesch. Dessen Familie war schon lange Zeit mit verschiedenen metallverarbeitenden Betrieben rund um Düren ansässig. „Als Mitte des 19. Jahrhundert die Erzvorkommen in der Region erschöpft und die umliegenden Wälder abgeholzt waren, musste sich die Familie die Frage stellen: Was machen wir jetzt? Den Laden zumachen oder fangen wir woanders noch mal ganz neu an?“, sagt Ingrid Thiel. Schnell fiel der Blick der Familie aufs Ruhrgebiet.
Hier zählten sich bald etliche Menschen zur Hoesch-Familie. Die harte Arbeit schweißte zusammen. Zum Zusammenhalt beigetragen hat auch der sehr soziale Umgang mit den Arbeitern, sagt Thiel. Zur Unterhaltung gab es eine eigene Werksbibliothek, für die Betreuung des Nachwuchses einen Kindergarten. Während der Wirtschaftskrise kaufte Hoesch ein Krankenhaus, „in dem die Kinder der Arbeiter für einige Wochen untergebracht und aufgepäppelt wurden“, erzählt Thiel.
Zweiter Weltkrieg: Hoesch wird in Dortmund zum Rüstungskonzern
Die Arbeiter selbst machten sich ab dem Zweiten Weltkrieg – in dem Hoesch zum wichtigen Rüstungskonzern des Nazi-Regimes wurde und etliche Zwangsarbeiter beschäftigte – zunehmend für bessere Arbeitsbedingungen stark. „Gestreikt wurde bei Hoesch eigentlich immer“, sagt Ingrid Thiel. An die Zeit des Arbeitskampfes erinnert im Museum heute ein historischer „Streikofen“, an dem sich die Arbeiter damals aufwärmten, wenn sie ihre Posten an den Werkstoren bezogen.
Am 5. Februar 1981 begann ein ganz besonderer Streik. Zuvor hatte die Chef-Etage beschlossen, das neue, lange versprochene Werk doch nicht mehr zu bauen. Entsetzen bei den Mitarbeitern – und ihren Frauen, die sich zum Protest formierten. Sie sammelten Unterschriften, liefen bei Demonstrationen mit, verteilten Buttons mit Slogans wie „Wir Frauen fordern Arbeitsplätze“ oder „Stahlwerk jetzt!“.
Aus Verzweiflung traten einige von ihnen vor den Werkstoren der Westfalenhütte sogar in den Hungerstreik. Das Ende des Stahls in Dortmund zu verhindern, das haben sie nicht geschafft. Aber sie haben es geschafft, sich zusammen zu schließen, ernst genommen zu werden, für Gleichberechtigung zu kämpfen.
Im Juni 1989 erreichte die Macht des Betriebsrats schließlich einen weiteren Höhepunkt. Die Dortmunder Personalvertretung war zu Besuch in Moskau, zeitgleich mit Ex-Kanzler Helmut Kohl. In Moskau hörte Betriebsrats-Chef Werner Nass, dass Gorbatschow zum Gegenbesuch nach Deutschland kommen sollte. „Wir haben ihn rotzfrech eingeladen“, sagte er damals in einem Gespräch mit unserer Zeitung.
Gorbatschows Zusage kam prompt, am 15. Juni sprach er vor versammelter Belegschaft in der Conti-Glühe. In den ersten Reihen: „Wichtige Politiker, deren Mundwinkel bis auf den Boden gezogen waren“, sagt Thiel. Doch auch die Stimmung bei den Hoeschianern sollte bald einen Tiefpunkt erreichen. Die Stahlkrisen hatte man dank Fusionen, Umstrukturierungen und Modernisierungen relativ gut überstanden.
Feindliche Übernahme durch die Krupps
Umso überraschender kam das plötzliche Ende, für das ausgerechnet die größten Konkurrenten verantwortlich waren: die Krupps. „Unterstützt durch eine Bürgschaft des Landes NRW und mithilfe von Schweizer Banken gelang es der Firma Krupp, heimlich, still und leise massenhaft Aktien von Hoesch aufzukaufen. Der Vorstand flog aus allen Wolken, die haben das nicht kommen gesehen“, erinnert sich Thiel. Die erste feindliche Übernahme eines Aktienunternehmens in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete zugleich das Ende für Hoesch.
An den Stahlriesen erinnern noch heute viele Orte in der Stadt, wenn auch nicht auf den ersten Blick, wie die Zentrale an der Rheinischen Straße. Damit der Mythos nicht in Vergessenheit gerät, ist Ingrid Thiel im Museum auf der Westfalenhütte ehrenamtlich im Einsatz – als eine der letzten Hoeschianer.
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