Essen. Er wurde Schriftsteller, um sich gegen die Zumutungen des Lebens zu wehren: John Irving wird 80 – und im Oktober soll sein neues Buch erscheinen.

Warum wird einer Schriftsteller? Es gibt eine Szene in John Irvings Roman „Letzte Nacht in Twisted River“, da sieht sich der noch junge Held Danny fremden Tränen ausgesetzt, Tränen des fremden Mitleids mit ihm selbst: „In diesem Moment, als er auf dem Schoß dieser Frau sitzt und sie weint, da stellt er sich vor, am anderen Ende der Küche zu sein. Es ist ein frühes Beispiel dafür, dass Danny wie ein Schriftsteller denkt: Ich möchte das nur beobachten, ich möchte nicht der Junge in den Armen dieser Frau sein. Lass nicht zu, dass mir das passiert.“

Ich möchte das nur beobachten: In all seinen Romanen hat John Irving eigene Traumata ans andere Ende der Küche geschoben (so viel gleichnamige Psychologie sei erlaubt), um sie dann aber keinesfalls zu beweinen, sondern zu nutzen: für tollkühne Storys aus dem wilden Leben. Wer das Glück hatte, John Irving live zu erleben, im persönlichen Gespräch auf jede Frage eine (eher lange denn kurze) Geschichte als Antwort zu bekommen, dem hat sich die enorme Vitalität eingebrannt, mit der Irving sein Leben und Schreiben erzählt. Ja, er hat früh seinen Vater verloren, ja, er hatte einen schwierigen Start. Aber dann! „Ich schreibe über die Dinge, vor denen ich mich fürchte“, sagt Irving, und er sagt das so, dass sofort klar ist: Im Schreiben streift er jedes Opfersein ab, wird zum Akteur, zum Gestalter.

Das Leben ist eine „Straße der Wunder“

Warum hat der eine Schriftsteller Erfolg und der andere nicht? Weil das Leben eine „Straße der Wunder“ ist, und im gleichnamigen Roman gelingt es Juan Diego nur, seinen Schriftstellertraum zu verwirklichen, weil ein kleines Mädchen die Gedanken eines Löwen lesen kann und eine Marienstatue Tränen vergießt.

Nicht ganz so wundersam, aber fast, begann die Karriere von John Irving, der seinen ersten Roman in und um Wien herum schrieb („Lasst die Bären los“, 1962) und nach zwei weiteren Werken meinte, sein Verlag kümmere sich nicht genug um ihn – woraufhin ein Verlagswechsel „Garp und wie er die Welt sah“ (1978) zum Erfolg katapultierte und Irving, der Literatur studiert hatte und unterdessen am College von Vermont lehrte, ein freies Leben als Schriftsteller ermöglichte.

Als John Wallace Blunt, Jr. in New Hampshire geboren

Was John Irving selbst, am 2. März 1942 als John Wallace Blunt, Jr. in New Hampshire geboren, vielleicht am allerwenigsten erwartet hätte. Die Mutter Krankenschwester, der Vater Kampfpilot, früh ließ das Paar sich scheiden – im Alter von sechs Jahren wurde John von seinem Stiefvater, dem Geschichtsprofessor Collin Irving, adoptiert. In der Schule machte seine Legasthenie es ihm schwer; eine Befreiung und Bestätigung wurde der Sport: Mit 14 Jahren begann John Irving mit dem Ringen, bis ins hohe Alter hinein blieb er dem Sport, der in vielen seiner Romane literarische Würdigung erfährt, als Trainer treu. Wie einen Ringkampf beschrieb er später das Schreiben: „Man braucht Disziplin und Technik. Man muss auf eine Geschichte zugehen wie auf einen Gegner.“

Legendär seine Arbeitsmethode: Mehrfach schreibt er jedes Manuskript per Hand, bis jedes einzelne Wort sitzt. Als erstes bringt er dabei stets den letzten Satz zu Papier; denkt die Geschichten bis zum Ende – und vom Ende her, der große Vorteil der Literatur gegenüber dem Leben.

Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Realität und Fiktion

Gerade im Erfolgs-„Garp“ setzt Irving sich selbst mit dem Verhältnis von Realität und Fiktion auseinander, spiegelt die Erlebnisse Garps in dessen Geschichten (auch dieser Held ein Schriftsteller). Zugleich setzt er hier den Ton für so viele weitere Werke, die ihre Protagonisten von einem Schicksalsschlag zum nächsten taumeln lassen, gebeutelt von den abstrusen Umständen ihrer Verluste. Je mehr sie (wie Garp) die Ihren zu schützen suchen, desto schneller scheint sie nur das Unglück zu ereilen. Und auch die großen Themen, das Ringen, das Schreiben, aber auch die Sexualität werden hier gesetzt, letztere vor allem in Fragen der Selbstbestimmtheit und der Orientierung. Als John Irving seinen Bisexuellen- und Transgender-Roman „In einer Person“ schrieb, outete sein jüngster Sohn sich als schwul: „Ich war so stolz auf ihn“, kommentierte Irving im Interview.

Er versteht es nicht nur, zugleich an zutiefst Traurigem zu rühren, das jeder Mensch mit sich trägt, und kurz darauf in heilendes Lachen über die Dramen des Lebens auszubrechen. Er versteht es auch, männliche Ideale (die Disziplin, die Härte des Ringers) im eigenen Schreiben zugleich zu überhöhen und mit allerlei Rüschen und Make-up derart unkenntlich zu machen, dass seine Figuren plötzlich frei scheinen, frei von allen Zuschreibungen, frei in ihren (politischen) Meinungen und frei in der Wahl ihres Lebensstils.

Im Oktober soll der Roman „The Last Chairlift“ erscheinen

Und auch sein neuer, nunmehr fünfzehnter Roman wird – so die Verlagsvorschau – eine Lanze brechen für sexuelle Toleranz, selbst im Jahr 1941 im US-Skiort Aspen, wo das Werk seinen Anfang nimmt. Im Oktober soll der Roman erscheinen, John Irving hat ihn auf seiner Webseite als seinen letzten Roman bezeichnet. Der englische Titel lautet „The Last Chairlift“. Der letzte Sessellift: Einen treffenderen, ironischeren Titel könnte man sich zum selbstgewählten Karriereende eines großen Geschichtenerzählers unserer Zeit kaum vorstellen.