Gelsenkirchen. Wolodymyr Chaykovsky ist zehn Jahre alt und singt Jazz-Standards wie ein Profi. Nach der Ukraine-Flucht lernt nun er an der Folkwang Hochschule.
Es gibt diese Momente, die erlauben einen kurzen Blick in die Zukunft. Vielleicht ist es so einer, als der zehnjährige Wolodymyr Chaykovsky das Musical „Starlight Express“ besucht. Erst wenige Tage ist er in Deutschland, versteht die fremde Sprache nicht – und ist doch so fasziniert von dem rasanten Musical, dessen Handlung er nur durch die Sprache der Musik, der Bilder, der Gefühle versteht. Besonders mit der Hauptrolle, dem Rusty, fühlt er mit. Wieder im Freien greift er nach der Hand von Mutter Natalia und sagt: „Wenn ich 18 bin oder 19, dann werde ich der nächste Rusty sein.“
In den folgenden Tagen lernt er eifrig die Lieder, die Texte, deren Worte er nachzuformen versucht. Das mache er von sich aus, betonen die Eltern. Nie würden sie ihn zum Üben nötigen. Will er lieber mit der jüngeren Schwester Julia spielen, darf er das natürlich. Zumal die beiden seit Wochen einander meist die einzigen Spielgefährten sind, sie ein sehr enges Verhältnis haben. Den Krieg haben beide kaum erlebt. Als die ersten Bomben fallen, sie kaum realisieren, was da passiert ist an diesem Donnerstag, 24. Februar, als Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine startet, bereiten die Eltern schon die Flucht vor.
In Eile aus der Ukraine geflüchtet
Ein Freund aus alten Zeiten, als die Eltern einem Kreuzfahrtschiff arbeiteten, Kreuzfahrtdirektor Andrej Belinskiy, ruft die Familie an, drängt zur sofortigen Ausreise nach Moldawien und Weiterfahrt ins Ruhrgebiet. Hier will sich der Freund um die Chaykovskys kümmern. In Windeseile packt die Familie das Nötigste zusammen, verlässt die Heimat. Sie passiert die Grenze, 45 Minuten bevor der Erlass ergeht, dass erwachsene Männer das Land nicht mehr verlassen dürfen. Es beginnt eine 14-tägige Odyssee, bis endlich die neue Heimat erreicht ist.
Die Chancen des ukrainischen Jungen, seinen Traum von der Rolle des „Rusty“ irgendwann zu leben, stehen so schlecht nicht. Denn die Musik ist Wolodymyrs Leben. Seit vielen Jahren. „Als er noch ganz klein war, sang er Kinderlieder. Und seine Stimme war noch nicht sehr klar“, sagt Mama Natalia und lacht dabei. „Aber als er fünf Jahre alt war, lernte er ein Lied über einen Vater. Damit überraschte er mich sehr. Seine Stimme war so gut und klar. Ich habe sofort einen Lehrer für ihn gesucht.“ Und nicht gefunden. Also unterrichtet ihn die Mutter selbst. Das ist kein Problem, denn sie ist selbst ausgebildete Sängerin, stand jahrelang auf internationalen Bühnen, gehörte lange zum Ensemble eines Kreuzfahrtschiffes. Gern investierte sie Zeit und Muße, denn sie weiß um das große Potenzial ihres Sohnes.
Als Kind schwer an Keuchhusten erkrankt
Es gab eine Zeit, da machte sie sich große Sorgen um ihn. Mit nur zwei Monaten erkrankte er schwer an Keuchhusten, litt lange unter den Folgen, schien sich kaum zu erholen. Auf Anraten eines Arztes zog die Familie nach Odessa um, an die ukrainische Schwarzmeerküste.
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Das Seeklima half so gut, dass Wolodymyr nach einigen Jahren wieder beschwerdefrei war. Dennoch hatte die Gesangsausbildung zunächst auch einen gesundheitlichen Aspekt. Aus demselben Grunde förderten die Eltern, dass der Junge das Saxofonspiel erlernt. Beides schult seine Atmung enorm.
Mit fünf Jahren war Wolodymyr gesund – und lebt seitdem fürs Singen. „Er singt den ganzen Tag. Er singt, wenn er aufsteht, er singt, wenn er ins Bett geht. Selbst wenn er Matheaufgaben löst, dann singt er sie sich selbst vor. Es ist, als könne er nur singend denken”, erzählt Mama Natalia.
Als Wolodymyr mit fünf Jahren erstmals an einem Gesangswettbewerb teilnahm, gewann er noch nicht. Aber: „Die Jury sagte zu mir, er hat eine große Zukunft“, so Mutter Natalia. Den zweiten Wettbewerb gewann er dann. „Mit dem Lied: O sole mio. Das liebt er.“ Bis heute. Die Weichen aber für seine Leidenschaft stellte ein anderes Stück. Mit sieben Jahren gewinnt er einen ukrainischen Grand Prix mit „Feeling Good“ von Michael Bublé. Der ist das Vorbild des Zehnjährigen. Er teilt seine Leidenschaft für Jazz und Swing. Daran ist auch die Mama nicht ganz unschuldig. Denn für Jazz schlägt auch ihr Herz.
Keinen anderen Beruf gewünscht
„Nach dem ersten Grand Prix hat er große Schritte gemacht. Von da an fühlte er sich wie ein Bühnenkünstler.” Über andere Berufswünsche denkt der Junge nie nach. „Er hat nie gesagt, ich möchte Arzt werden oder so etwas. Das Einzige was er will ist Singen und Tanzen.“
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Das soll er auch hier im Revier können. Die deutschen Freunde der Eltern helfen dabei, einen Kontakt herzustellen zur Folkwang Hochschule der Künste. Dort singt er vor, spielt auch auf seinem Saxofon. Die Lehrer kann er beeindrucken. Seit einigen Wochen erhält er hier Gesangs- und Saxofon-Unterricht. Und er singt im Musical-Chor. Ob das nicht recht viel ist? Da lacht die Mutter. „Das ist nicht viel. In der Ukraine hatte er dreimal in der Woche Gesangsunterricht und einmal Musiktheorie. Dazu hatte er zweimal in der Woche Orchesterprobe.”
Mit Glück die Ausbildung finanziert bekommen
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Jedoch: Eine gute Ausbildung kostet Geld. Da kommt der Familie der Zufall zu Hilfe. Weil sie in den ersten Wochen in Deutschland noch keine eigene Bleibe haben, begleiten sie Andrej Belinskiy auf die „Opera“, ein Schiff der Reederei „Compass“. An Bord treten Mutter und Sohn als Dank für die kostenfreie und freundliche Aufnahme auf. Im Publikum sitzt ein Mitglied der Freimaurerloge Berlin. Er ist gleichsam berührt wie begeistert vom kleinen Wolodymyr, von seiner Geschichte, von seinem Talent. Er überzeugt seine Logenbrüder, für zwei Jahre alle Kosten für die Ausbildung zu übernehmen.
Nach den Ferien wird Wolodymyr eine deutsche Schule besuchen. Der musischen Ausrichtung wegen hat sich Mama Natalia für die Gesamtschule Holsterhausen entschieden. Dort wird er ein weiteres Instrument erlernen, im Orchester dabeisein. Am liebsten möchte er Klavier spielen. Weil sie das alle können, die großen Jazz-Sänger ihrer Zeit. Ob Michael Bublé oder Frank Sinatra. Noch so ein Vorbild von Wolodymyr, das musikalische Wunderkind aus der Ukraine.
>>>Jung auf die Bühne
Wolodymyr Chaykovsky hat schon einige kleine Auftritte in Deutschland gehabt – immer gemeinsam mit Mutter Natalia. So wird er nicht überfordert, kann singen und spielen, wozu er Lust hat und die Mutter ergänzt das Programm mit französischen Chansons, Musicalhits und Jazz-Standards.Einige Stücke singen die beiden zusammen. So wie „Hit the Road Jack“, zu dem Wolodymyr auch mit der Mama tanzt. Die Choreografie dazu zu entwickeln, fällt der Familie nicht schwer: Vater Dennis ist ausgebildeter Tänzer.