Andreas Kossert, Historiker und Experte für Flucht und Vertreibung, berichtet von einer weltweiten Massenerscheinung, die jeden angeht.
Als Ende 2020 Andreas Kosserts historischer Überblick „Flucht – Eine Menschheitsgeschichte“ herauskam, erhielt er den Sachbuchpreis der Friedrich-Ebert-Stiftung. Im Frühjahr 2022 scheint das Thema aktueller denn je. Georg Howahl sprach mit dem Berliner Autor und Historiker über ein leider zeitloses Phänomen.
Herr Kossert, laut UNHCR sind heute 80 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Gab es je zuvor in der Geschichte solch große Fluchtbewegungen?
Andreas Kossert Flucht hat es immer gegeben. Die Bibel ist die älteste schriftliche Überlieferung von Heimatverlust, Verbannung und Exil. Vor allem im 20. Jahrhundert wurde jedoch Flucht ein Massenphänomen. Es betraf nun ganze ethnische, nationale und religiöse Gruppen. Manchmal nannte man das 20. Jahrhundert deshalb auch das ,Jahrhundert der Flüchtlinge‘.
Und es scheint weiterzugehen…
Was wir jetzt sehen, ist leider eine direkte Fortsetzung. Der Unterschied zu damals: Heute sind wir viel besser informiert. Wir können über das Internet fast live dabei sein bei einer Flucht. Deshalb gibt es eine ganz andere Form von Dokumentation. Wir wissen mehr über Flucht, auch verfügen wir über viel konkretere Zahlen. Wichtig ist jedoch gerade jetzt, dass wir diese unvorstellbaren Größenordnungen nicht quasi als ,Kollateralschäden‘ von Krieg und Gewalt akzeptieren dürfen. Dahinter steht unvorstellbares Leid, hinter diesen Zahlen verbergen sich individuelle Dramen.
Sie beginnen Ihr Buch mit den Notizen eines Bauern während der Flucht aus dem Osten im Zweiten Weltkrieg – das war Ihr Urgroßvater. Welche Rolle spielte die Flucht in Ihrer Familie?
Ich habe das Notizbuch von meinen Großeltern geerbt, das mein Urgroßvater während seiner Flucht aus Masuren geführt hat. Es ging mir aber weniger darum zu zeigen, dass es auch meine Familiengeschichte ist, sondern dass Flucht und Heimatverlust Millionen Menschen in diesem Land betrifft. Wenn meine Großeltern von der verlorenen Heimat gesprochen haben, merkte man, dass sie im inneren Spagat lebten. Letztendlich waren sie im Westen eigentlich nie zu Hause. Es ist wichtig herauszustellen, dass Flucht eine biografische Zäsur ist. Es ist keine freiwillige Entscheidung. Es passiert unter äußeren Zwängen, durch Krieg oder Gewalt. Wie im Falle der meisten Flüchtlinge und Vertriebenen weltweit, gab es auch in meiner Familie keine Chance auf Rückkehr.
Wir sehen aktuell in den Nachrichten, dass flüchtende Frauen sich leider auch noch vor sexueller Gewalt fürchten müssen…
Flucht hat ein weibliches Gesicht. Frauen müssen sich in dieser furchtbaren Situation um die Kinder und alte Familienmitglieder kümmern. Das ist schon schwer genug. Und sie sind tatsächlich selbst in Gefahr, Opfer sexueller Gewalt zu werden, die ja leider eine begleitende Erscheinung von Krieg und Flucht ist.
Und das, obwohl die Geflüchteten schon alles verloren haben…
Ganz aktuell und mitten in Europa sieht man, wie archaisch eine Flucht ist. Im Augenblick der Flucht wird man herausgestoßen aus allem, was noch fünf Minuten zuvor etwas bedeutet hat. Ob wir uns die heutigen Bilder anschauen oder jene vor hundert Jahren: Es sind immer ähnliche Entscheidungen, die die Menschen treffen müssen, immer dieser unvorstellbare Vorgang, begleitet von Angst und Ungewissheit.
Bekommen Menschen Angst um sich selbst, wenn sie sehen, wie leicht andere ihre Heimat verlieren können?
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Ich bin kein Psychologe, aber der Anblick der Flüchtlinge löst auch eine Urangst in den Aufnahmegesellschaften aus: Was wäre, wenn mir das passiert? Rupert Neudeck, Mitgründer der Flüchtlingshilfe Cap Anamur, hat gesagt: ,In jedem von uns steckt ein Flüchtling.‘ Wenn wir in unserer eigenen Familiengeschichte suchen, werden wir fast immer eine Fluchtgeschichte finden. Und wenn wir uns das klar machen, aus der Sicht der Flüchtlinge zu denken, kann es uns noch leichter fallen, Mitgefühl für sie zu empfinden.
Andreas Kossert: Flucht - Eine Menschheitsgeschichte. Siedler, 432 Seiten, 25 €